Sonntagsmatinee/Lesung am 11.10.2020 in Roth

"Der Ort, wo DEIN Ehrenschein wohnt"

 

Den Hag deines Hauses
liebe ich,
wenn ich dort so sein darf, wie ich bin
deinen Ehrenschein respektiere ich,
wenn deine Vertreter mich anerkennen, wie ich bin
der Hag deines Hauses
kann geliebt werden.

(c) Margit Peip


Landsynagoge Roth

 

Ein Gotteshaus, ein Holzlager, ein Getreidespeicher, ein Gedenkort –
die Synagoge in Roth.
Geschichten und Bilder ziehen an meinem inneren Auge vorbei.
Welches Geschehen, welches Schicksal rührt mich gerade jetzt am meisten?
Nur ein kurzes Nachdenken, dann bin ich mir sicher: Die Rettung durch den Bauern, der das Gebäude über viele Jahre als Getreidespeicher genutzt hat. Als erstes taucht der Getreidestaub an den Wänden auf. Die letzten Ähren, die noch auf den Boden lagen, kann ich vage erkennen. Die Gänge, die die Mäuse gegraben habe, erahne ich nur. Sie haben sich sicher oft an der Ernte gelabt.
Ein Getreidespeicher, ein Holzlager, ein Gotteshaus, ein Gedenkort – die Synagoge in Roth.
Ein Raum, der mir auf seine Weise, einen Teil seiner Geschichte erzählt. Bilder ziehen an meinem inneren Auge vorbei.

 

(c) Margit Peip


Die Säule in der Synagoge zu Roth

 

Ich bin eine Säule mit einem gewissen Ruf. Nicht, dass ich das vorhergesehen oder mir gar gewünscht hätte. Es hat sich so ergeben.
Nur geringe Erinnerung habe ich an meine ersten Jahre. Mit vielen Geschwistern wuchs ich in einem Wäldchen im Lahntal auf. Wir wiegten uns im Wind, genossen Sonne und Regen. Nach Rechnung der Menschen war das zu Beginn des 19. Jahrhunderts, doch kümmerten wir uns nicht darum. Junge, starke Eichen waren wir, das zählte.
Bis eines Tages Männer aus einem der nahegelegenen Dörfer ankamen und seltsame Zeichen in unsere Rinde schnitten. Wir verstanden das nicht, und als sie sich wieder entfernt hatten, sprachen wir lange darüber. Wenige Tage später kamen sie zurück, mit anderen Männern, kamen mit Pferden und Werkzeugen. Damit schnitten sie einigen von uns in das herrliche Holz, verstümmelten uns, brachten uns zu Fall. Mit Hilfe der Pferde wurden wir an eine trockene Stelle gezogen, dort lagen wir über lange Zeit, die Wunden schmerzten weiter, wir trockneten aus; wir verstanden nichts mehr.
Heute, 200 Jahre später, wundert mich noch immer, dass mein Leben damals nicht zu Ende ging. Verändert hat es sich, so  viel habe ich erlebt. Furchtbar viel.
In Bauholz wurden wir verwandelt, ich hatte Glück, dass ich den wegen meiner Jugend geringen Umfang behalten konnte und nicht längs durchgeschnitten wurde. In ein Haus passte man mich ein. Aber was war das für ein Haus. Aus einem Raum bestand es, es war bewohnt und doch nicht bewohnt, meist stand es leer und ruhig, an einem Tag in der Woche war es angefüllt mit Menschen, dann ging es dort laut und fröhlich zu. Sie sprachen, sie sangen, seltener tanzten sie und lachten. Über lange Zeit verstand ich nicht den Grund dieser merkwürdigen Treffen, so ganz habe ich es bis heute nicht begriffen. Seltsame Kleidung, seltsame Sprache, immer im Vergleich zu den Leuten draußen auf der Straße.
Von meiner Position aus hatte ich einen guten Überblick. Ich stand frei auf dem Grund, zusammen mit einem Bruder aus dem Wald trug ich einen hölzernen Aufbau. Wie Atlas die ganze Welt auf seinen Schultern, so trug ich diese Empo-re. Ja, durch viel Zuhören und Beobachten habe ich mir eine gewisse Bildung angeeignet – Zeit genug dazu hatte ich ja.
Und wozu diente der Aufbau? Durch die Fenster sah ich, wie die Familien gemeinsam und fröhlich zu ihren Feiern ankamen, am Eingang trennten sie sich jedoch; die Männer und ihre großen Söhne gingen in den hellen Saal, die Frauen mit den Kindern dagegen nahmen die Treppe und drückten sich auf die Empore. Und das soll einer verstehen. Obwohl-zuweilen schien es oben mit viel Getuschel und unterdrücktem Gelächter fröhlicher und lebendiger zuzugehen als unten bei den Männern.

So vergingen seit 1830 viele Jahre, die Woche über war es meist ruhig, am Wo-chenende, schon am Freitagabend, kam die Gemeinde, Kerzen brannten und es wurde laut. Mir gefiel das, ich genoss den Sabbat und ich genoss die Ruhe. Ein ganzes Jahrhundert währte diese gute Zeit. Dann jedoch, langsam erst, später deutlicher änderte sich die Stimmung. In den Ansprachen tauchten neue Themen auf, Diskussionen wurden erregter, aber auch ängstlicher, wie mir schien. Das war es, vor irgendetwas hatten sie Angst. Und es wurden weniger; ganze Familien fehlten mit einem Mal. Über sie wurde nur selten gesprochen, lediglich das Wort ‚Amerika‘ konnte ich manchmal hören, fast neidisch klang es.
Noch viel schlimmer kam es. Eines Tages drang ein Trupp Männer in mein Haus ein. Männer, die ich nie zuvor gesehen hatte. Sie schrien und hatten wilde Augen. Durch ihr Auftreten schienen sie sich gegenseitig Mut zu machen. Mit lauter Stimme beratschlagten sie, was sie unternehmen wollten. Zunächst zerschlugen sie alles, was sie in dem großen Raum vorfanden. Selbst der Schrank mit den wertvollen Thorarollen fiel ihnen zum Opfer. Als ich die Werkzeuge in ihren Händen sah, erschrak ich tief. Es waren die gleichen Äxte und Sägen, mit denen mich ihre Vorfahren 100 Jahre zuvor zu Fall gebracht hatten. Und sie trugen brennende Fackeln, am helllichten Tage. Was war das? Sie begannen unverzüglich, Feuer an das Gestühl und die Empore zu legen. Ja, war denn die ganze Welt verrückt geworden? Zum Glück fielen ihnen einige andere Männer, die ich als Nachbarn von der Straße erkannte, in den Arm und schrien, dass, wenn der ‚Judentempel‘ brennen würde, ihre nahegelegenen Bauernhöfe gleich mit in Flammen aufgingen. Das leuchtete selbst diesen Wüterichen ein, die Brandstiftung unterblieb.
Mir nützte das kaum etwas, denn einer dieser „Helden“ begann stattdessen, mit seiner Axt auf mich einzuschlagen. Er wollte wohl die ganze Empore zu Fall bringen. Dabei fügte er mir tiefe Verletzungen zu. Glücklicherweise ermüdete er rasch und ließ brummend von mir ab. Und die Empore thront  bis heute über dem heiligen Raum.
Diesen furchtbaren Tag werde ich nie vergessen. Seitdem sind weitere 80 Jahre vergangen, was ich in dieser Zeit erlebt habe, kann ich vielleicht ein anderes Mal berichten. Wenn ich mich nicht mehr so alt und müde fühle wie heute. 

 

(c) Michael Endter


Die Säule und der Mann

 

Die Säule:
Ich war in einem Wald groß geworden, inmitten meiner Verwandtschaft der Bäume, die vor mir hier gewachsen waren. Das war ein langsames Werden, doch wurde mir die Zeit nicht lang. Ich ließ mich von der Sonne bescheinen, den Wind durch meine Blätter wehen, begrüßte den Leben spendenden Regen und ließ mich vom Schnee bedecken. Und so verging die Zeit, bis ich ein junger kräftiger Baum geworden war.
Da kamen eines Tages Menschen in den Wald. Von denen hatte mir einer meiner Vorfahren schon berichtet. Sie waren bisher aber erst einmal im Wald aufgetaucht.
Seitdem war sehr viel Zeit vergangen.
Diese hier trugen ein in der Sonne schimmerndes Gerät mit sich. Sie besahen sich die Baumgruppe, in deren Mitte ich mich befand. Dann kamen sie auf mich zu, setzten das Gerät kurz über dem Waldboden an mir an und zwei der Menschen bewegten es so lange hin und her, bis ich umstürzte. Da lag ich. Der obere Teil mit der schönen Baumkrone wurde gekappt. Dann schleppten mich die vier Lebewesen zu einem Ort, an dem sich viele Gebäude befanden. Zwei der Wesen gingen in eines davon hinein, um kurz darauf wieder herauszukommen. Sie brachten Geräte mit, mit denen sie meine Rinde abschälten. Dann wurde eine zähflüssige Masse über mich gestrichen. Danach vergingen ein paar Tage. Daraufhin kamen die Menschen wieder, schleppten mich in eines der Gebäude und stellten mich dort auf. Ein anderer Baumstamm stand etwas weiter neben mir. Da uns beiden die Wurzeln fehlten, war es uns nicht möglich Nachrichten auszutauschen. Später wurde ein Dach, wie das Blätterdach des Waldes, über uns errichtet, dass wir stützen mussten.
In dem Gebäude befand sich noch vieles, mit dem ich nichts anfangen konnte. Auf einer Seite war beispielsweise eine Lichtquelle, die Tag und Nacht leuchtete.
Dann tauchten nach einiger Zeit viele Menschen auf und versammelten sich in diesem Gebäude. Sie sahen sehr unterschiedlich aus. Einige davon gingen auf das Dach, das wir stützten.
Einer der Menschen stand vor den anderen, hielt etwas in den oberen Auswüchsen, die wie Äste waren, und gab Geräusche von sich, die die Menge nachahmte. Es tat wohl, diese Geräusche zu vernehmen. Sie erinnerten mich an das behagliche Rauschen im Wald, wenn der Wind wehte. Die Versammlungen fanden in regelmäßigen Abständen statt. Ansonsten stand ich dort ganz gelassen, wie ich auch im Wald gestanden hatte. Ich ruhte die meiste Zeit und freute mich, wenn sich die Wesen in dem Gebäude versammelten und ihre Geräusche von sich gaben.
Und dies ging eine ewig lange Zeit so. Ich war’s zufrieden.
Doch dann kam irgendwann dieses Ereignis, dass auf ewig seine Spuren an mir hinterließ. Der Tag war schon vorüber, als in das Gebäude Menschen hereinstürzten, die alle gleich ausschauten. Sie sahen aus wie die dunklen Blätter im Herbst. Und sie zerstörten alles, was sich in dem Gebäude befand. Sogar die Lichtquelle erlosch.
Das Schlimmste aber war, dass einer dieser Menschen sich auf mich stürzte und mit einem scharfen Gegenstand auf mich einhieb. Teile meines Stammes flogen davon, dieser Mensch schien nicht aufhören zu wollen. Ich musste meine gesamte Energie aufwenden, ihn zu veranlassen, aufzugeben. Er stutzte, ließ den scharfen Gegenstand sinken und ließ von mir ab. Die Kraft, mit der er auf mich eingeschlagen hatte, hatte ihn verlassen. Er schien kleiner geworden zu sein und verließ das Gebäude.
Nach kurzer Zeit folgten ihm auch die übrigen Menschen.
Danach aber kamen die unterschiedlich aussehenden Menschen nie mehr in das Gebäude, um ihre angenehmen Geräusche zu machen.


Der Mann:
Ich stehe in meiner SA-Uniform vor dem Spiegel, binde mir die Krawatte, ziehe mir das Käppi auf. Ich bin froh, dass endlich klar ist, dass wir gegen diese Itzigs vorgehen können. Wird Zeit, dass man denen klarmacht, wer hier das Sagen hat. Bedauerlich an der heutigen Aktion ist nur, dass man denen die Bude nicht anstecken kann. Die Gefahr, dass das Feuer auf die angrenzenden Bauernhöfe übergreift, ist zu groß.
Ich gehe mit einer Axt bewaffnet aus dem Haus und treffe mich vor der Synagoge mit anderen Leuten der SA. Die Stimmung ist gut, eine Schnapsflasche macht die Runde, bis einer ruft: »Dann mal los!«
Wir stürmen voran, brechen die Tür der Synagoge auf, hetzen hinein. Einige von uns zerschlagen den Thoraschrein, zerstören die Sitzbänke und zerschmettern die Fensterscheiben.
Ich stürze mich auf die erste hölzerne Säule, die die Frauenempore stützt und schlage derart auf sie ein, dass die Späne nur so fliegen. Ich habe einige Dutzend Schläge gemacht, als ich eine merkwürdige Energie spüre, die von der Säule ausgeht. Ich stutze, lasse die Axt sinken und frage mich, was ich eigentlich hier mache. Wie war ich nur auf den Gedanken gekommen, diese religiöse Stätte zu schänden? Was haben mir diese Leute eigentlich getan? Es sind doch Mitbürger des Ortes, die schon ewig hier leben.
Langsam drehe ich mich herum und gehe mit hängenden Schultern hinaus. Auf dem Weg nach Hause lasse ich irgendwo die Axt fallen.

 

(c) Rainer Güllich        


An Meinesgleichen

Du stehst da, als gehörte dir die Welt – jung und meschugge, wie du bist. Die Leichtigkeit wird dir jäh vergehen, wenn du hinter die Maskerade der anderen blickst. Lerne aus meinem Schicksal. Ich, Narr genug zu glauben, meine Arbeit, mein Dasein würden geschätzt und geachtet. Erst nehmen sie dir deine Krone und dann deine Wurzeln, bis du verkrüppelt dastehst- machtlos, entfremdet. Ich, einst ein stolzer Baum, degradiert zu einem nach Staub stinkenden Stamm. Gut genug ihre Last zu tragen. Aber nur so lange, bis ich von innen verrotte. Ich bin ersetzbar.
Sie mögen dir deine Krone nehmen und auch deine Wurzeln. Doch deine Erinnerungen gehören dir. Halte sie gefälligst in Ehren. Solange du weißt, wer du bist und woher du kommst, kann dich niemand demontieren.
Sie ziehen dir sogar die Haut ab, nur weil es ihnen gefällt. In die Umgebung integrieren solltest du dich schließlich. Du hast alles ausgehalten und mitgemacht, nur um festzustellen, dass die Nächsten kommen und eine neue Umgebung definieren. Als Anerkennung dafür endest du mit einer Axt zwischen deinen Rippen. Mit ihnen Tacheles reden darfst du nicht, denn der Fehler liegt bei dir. Immerhin bist du diejenige, die nicht an ihrem rechtmäßigen, für sie bestimmten Ort verweilt. Du brauchst eine ordentliche Portion Chuzpe, um ein würdevolles Leben zu leben. Auch – und gerade – wenn sie wegen deiner Nase oder deiner dunklen Augen auf dich herabblicken. Lass den Spott an dir abprallen. Du wurdest schon einmal entwurzelt. Setze dir selbst die Krone auf. Lass dir neue Wurzeln wachsen. Behalte den Rippenbruch als Erinnerung an deine schmerzhafte Vergangenheit – aber vor allem lebe. Lebe, um zu erzählen und zu erinnern. Denn beim nächsten Mal ist es vielleicht nicht das Holz einer einsamen, alten Säule mitten im Nirgendwo, sondern das einer Tür mitten in einer Stadt, das splittert. Sei dir selbst treu und deinesgleichen. Es sind deine Lieder, deine Sprache und deine Weltanschauung, die in dir weiterleben, und bist du noch so verpflanzt. Es gibt dir Halt und bewahrt dich vor dem Verrotten. Daran ändert auch ein Axthieb in deine Rippen nichts. Auch wenn dein Nächster weit weg scheint, da ist jemand, der dich achtet und versteht. Einer, dem auch die Krone und Wurzeln entrissen wurden. Einer, der dich auch ohne Worte versteht, einfach nur bei dir bleibt und dadurch deine Last mit dir teilt. Einer, der verstanden hat, dass du liebenswert bist. Du bist nicht allein.

(c) Feray Boland


„ Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du“

 

 

Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du


Ja und Nein


Jeder Mensch ist einzigartig


Liebe deinen Nächsten, denn er ist einzigartig, muss es heißen


Und doch sind alle gleich in dem Wunsch nach Freiheit


Und gleich in dem Wunsch nach Liebe und Anerkennung


Darum liebe deinen Nächsten, denn er ist Mensch wie du


Und in seinem Anderssein erkennst du dich selbst

  © Hermine Geißler


 

Tragende Säule

 

Ich bin Zeuge
Sie kamen mit Mordlust in den Augen,
stürzten mit Äxten und Knüppeln bewaffnet in die geheiligte Stätte

in die, mit den goldenen Sternen

Ich bin Zeuge
Holz und Glas zersplitterten unter blinder unerklärlicher Wut
Sie zerhackten die Bänke und zerstörten den Thoraschrein
Knüppelhiebe auf berstende Fensterscheiben

unter goldenen Sternen

Ich bin Zeuge
Die heiligen Bücher wurden zerrissen
Die Leuchter zerbrochen
Der Davidstern geschändet

unter goldenen Sternen

 

(c) Hermine Geißler

 

 

 


WinterLesung am 13.12.2019 - Texte zum Thema -
"DieNACHT IN DER DAS FÜRCHTEN WOHNT" (Mascha Kaléko)

 

 

Die Kutsche

 

 

Der Kamin in der Gaststube strahlte eine angenehme Wärme aus. Ab und zu zerbarst ein brennendes Scheit und Funken stoben. Die fünf Personen an dem rustikalen Holztisch vor dem Schanktresen ließen sich dadurch nicht stören. Es waren ein älterer feister Mann mit Glatze, zwei junge kräftige Kerle, die wohl gerade an die zwanzig Lenze zählten, eine Frau, die das gleiche Alter zu haben schien und ein reifer wirkender Mann. Seiner Kleidung nach ein Bauer, während die zwei jungen Männer vornehmer gekleidet waren. Der Glatzköpfige führte das Wort. »Für morgen ist alles bereit. Die Pferde sind im Stall, die Sättel mit den Satteltaschen ebenfalls. Von wem ich Pferde und alles andere habe, braucht ihr nicht zu wissen. Vollmond haben wir auch, es wird ausreichend Licht geben, um euren Weg zu finden.
Einer der jungen Männer richtete sich in seinem Stuhl auf. Er schien sich mehr Größe geben zu wollen. »Was wir immer noch nicht geklärt haben, ist die Frage, ob wir den Kutscher und seinen Begleiter töten oder sie am Leben lassen?«
Der Glatzköpfige schnaubte durch die Nase. »Hast du wieder zu viel Branntwein ge-trunken, dass du alles vergisst? Wir hatten schon besprochen, dass es auf die Situation ankommt. Ob die Leute sich gleich ergeben oder ob sie Schwierigkeiten machen. Da fällt mir ein«, und mit diesen Worten wandte er sich an den Mann in der Bauerntracht, »ich habe hier die versprochene Waffe für dich.«
Er ging hinter den Tresen, zog dort eine Schublade auf, kam mit einer Steinschlosspis-tole an den Tisch zurück und gab sie dem Mann.
»Die Waffe ist alt, mir wurde aber versichert, dass sie tadellos funktioniert, doch kannst du unseren beiden Junkern den Vortritt lassen. Haben sie doch die neuesten Waffen aus ihres Vaters – unseres werten Barons – Waffenschrank zur Verfügung.«
Der des Branntweintrinkens bezichtigte junge Mann fuhr erbost auf. »Was sollen diese spitzen Worte? Wenn mein Bruder und ich nicht diese enormen Spielschulden bei diversen hochgestellten Persönlichkeiten hätten, hätten wir uns nicht mit Euch eins gemacht.«
Der Glatzköpfige lächelte grimmig. »Ich weiß das. Und deshalb möchte ich dich und deinen Bruder, wenn der morgige Coup gelungen ist, nicht mehr in meinem Gasthaus sehen. Außerdem wirst du die Finger von meiner Tochter lassen. Dieses Techtelmechtel mit ihr habe ich mir lang genug angeschaut.«
»Aber Vater, was soll denn das?« Die junge Frau war aufgesprungen und sah den Wirt entsetzt an. Doch der wies sie nur grob zurecht und schickte sie aus der Gaststube in den Wohnbereich hinaus. Sie gehorchte.
Clemens von Hof, der des Branntweintrinkens Bezichtigte griff an seine Pistolentasche, doch bevor die Situation weiter eskalieren konnte, trat sein Bruder Wilhelm dazwischen und sagte: »Beruhigen wir uns alle. Harte Worte sind gefallen, doch denke ich, wird sich morgen nach dem Überfall auf die Kutsche, alles zum Besten wenden. Wir sind alle angespannt ob der Situation. Wir sind als Gemeinschaft angetreten und sollten uns auch so verhalten.«
Der Wirt Alfons Böck nickte, gab Clemens von Hof die Hand und sagte. »Verzeih. Ver-giss meine Worte.«
Christof Feldmann, der Bauer warf seinen Dreispitz auf den Tisch und sagte mit lauter Stimme: »Ich habe mich entschlossen bei der Sache mitzumachen, weil man mich sonst nächsten Monat von meinem Besitz vertreiben wird. Die Schuldenlast ist zu groß. Doch wenn ich mir nun diesen Streit ansehe, kann ich nur sagen, dass unser Vorhaben unter einem schlechten Stern steht. Außerdem haben wir keinen Vollmond, sondern Dreiviertelmond und das bedeutet, dass die Nachtgeister zugange sind und uns Unglück bringen werden. Meine Großmutter hat mir genug davon berichtet.«
Böck lachte schallend. »Vollmond, Dreiviertelmond, Nachtgeister! Das ist doch alles nur Humbug. Deine Großmutter hat dir da schöne Ammenmärchen erzählt. Der Überfall ist beschlossene Sache.«
Feldmann, eingeschüchtert durch die groben Worte des Wirts nickte und ließ den Kopf sinken. Damit waren alle Widerstände gebrochen und das Unheil konnte seinen Lauf nehmen.
Böck lächelte. Er hatte es in langen Gesprächen geschafft die beiden jungen verschuldeten Adligen und den ebenfalls vor dem Bankrott stehenden Bauern davon zu überzeugen, dass es ein Leichtes sei, die einmal im Monat von Waldburg nach der Feste Graufels verkehrende Kutsche zu überfallen. Die Kutsche transportierte den Sold für die Soldaten der Feste. Sie nahm immer den gleichen Weg und kam nach Einbruch der Dunkelheit in der Nähe des Dorfes vorbei. Böck und seine Komplizen gingen davon aus, dass man niemand aus dem Dorf verdächtigen würde, denn wer sollte so dumm sein, direkt vor seiner Haustür ein solches Verbrechen zu begehen.

Der Mond warf sein fahles Licht auf den Fahrweg. Die zwei Adligen und der Bauer saßen auf ihren Pferden, die unruhig schnaubten. Dort wo die Kumpane standen, gab es eine Gebüschreihe. Sonst war die Gegend kahl. Nur Wiesen und Felder. Hier war die geeignetste Stelle. Die Männer würden von dem Kutscher und seinem Begleiter erst bemerkt werden, wenn sie ihnen mit ihren Rössern in den Weg traten. Clemens von Hof deutete den Fahrweg hinunter. »Dort kommen sie.«
Man konnte in der Ferne das Flackern der Kutschenlampen sehen, die beidseits neben dem Kutschbock befestigt waren. Die Lichter näherten sich. Im Mondlicht konnte man erkennen, dass es ein Kutschwagen war, der dort mit Kutscher und Begleiter herankam. Genau wie erwartet. Kurz bevor der Wagen auf ihrer Höhe war, sprengten die drei Männer mit ihren Pferden hinter den Gebüschen hervor und richteten die Pistolen auf die auf dem Kutschbock Sitzenden.
»Halt! Überfall!« Clemens von Hof war es, der dies rief.
Der Kutscher zog die Zügel an, die beiden Kutschpferde reagierten sofort. Der Wagen stand. Der Begleiter warf die Flinte, die er in der Armbeuge gehalten hatte, auf den Fahrweg.
Der Kutscher, ein älterer Mann mit tiefen Furchen im Gesicht, beugte sich nach vorn vor, um besser sehen zu können. Die Kutschlampen waren jeweils nur mit einer Kerze versehen, doch die angebrachten Reflektoren warfen ihr Licht hell auf die drei Reiter. Sie waren gut zu erkennen.
»Das darf wohl nicht sein. Die Herren von Hof bei einem Überfall. Wer hätte das ge-dacht.«
Erschreckt nahm er die Hand vor den Mund. Das war unbedacht gewesen. Die Rech-nung dafür kam auch sofort. Clemens von Hof, der seine Pistole auf den Kutscher ge-richtet hatte, drückte ab. Pulverblitz und Knall waren fast eins. Der Kutscher griff sich an die rechte Brustseite und stürzte vom Kutschbock. Der Begleiter saß kurz wie gelähmt, doch dann sprang er vom Kutschbock, um zu fliehen. Er kam nicht weit. Wilhelm von Hof streckte ihn mit einem Schuss nieder.
»Was habt ihr getan?« Christof Feldmann war außer sich.
Clemens von Hof lächelte grimmig. »Was hätten wir sonst tun können? Er hat uns er-kannt. Ich möchte, dass mein Kopf noch einige Zeit auf meinen Schultern bleibt. Schau lieber nach, ob die beiden tot sind.«
Wie in Trance folgte der Bauer dem Befehl. »Der Kutscher lebt noch. Der Andere ist tot.«
Clemens sagte mit ernster Miene: »Dann muss ich ihm den Gnadenschuss geben.«
Er trat auf den Kutscher zu, der mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden lag. Dieser wusste was auf ihn zukam. Er schaute Clemens in die Augen und sagte: »Du und deine Kumpane sollt verflucht sein. Ihr habt euch einen schlechten Tag für euer Vorhaben ausgesucht. Heute ist Dreiviertelmond. Wiedergänger, Gespenster, Hexen und Zauberer treiben ihr Unwesen. Ihr werdet auf ewig in dieser Nacht gefangen sein und den Weg nach Hause nie finden.«
Kaum hatte der Kutscher das letzte Wort ausgesprochen, schoss ihm Clemens eine Kugel in den Kopf. »Dümmlicher Aberglaube. Los, öffnet die Truhe auf dem Kutschwa-gen, lasst uns den Sold in die Satteltaschen packen. Dann nichts wie weg hier. Die Toten lasst liegen.«
Christof Feldmann wollte erst aufbegehren, doch dann machte er sich daran, das Schloss der Truhe aufzubrechen. Die darin enthaltenen Silbermünzen waren schnell in die Satteltaschen gepackt und die drei Männer ritten den Weg zurück, den auch die Kutsche genommen hatte. Die beiden Brüder lachten und lärmten, der Bauer war still. Nach kurzer Zeit teilte sich der Weg in drei Richtungen. Die Reiter hielten die Pferde an.
»Was in Teufels Namen ist das? Drei Wege? Es gibt nur einen Fahrweg«, sagte Cle-mens.
Der Bauer flüsterte: »Dreiviertelmond.«
Doch Clemens hatte es gehört. »Lass mich in Ruhe mit deinem Dreiviertelmond«, don-nerte er. »Welchen Weg sollen wir nehmen, um zum Gasthof zu kommen? Ich denke, den geraden.«
Sein Bruder antwortete: »Ich bin sicher, dass es der linke Weg ist.«
Christof Feldmann war für rechts.
»So soll jeder seinen Weg nehmen. Auf bald«, sagte Clemens, gab seinem Pferd die Sporen und verschwand in der Dunkelheit. Wilhelm von Hof zuckte mit den Achseln und setzte sich auf dem linksseitigen Weg ab. Christof Feldmann nahm den Weg nach rechts.
Man hörte und sah niemals wieder etwas von ihnen.

(c) Rainer Güllich


Nacht

 

Sie schreckte hoch. Was war das? Ein Seufzer aus der Tiefe. Ach, die Spülmaschine. Klar, sie hatte sie heute Abend, oder war es inzwischen schon gestern, angestellt. Hatte sie völlig vergessen. Sie drehte sich zur Wand und klemmte das Kopfkissen so fest zwischen Schulter und Hals, dass sie es über das linke Ohr ziehen konnte; die Beine winkelte sie an, Embryohaltung, Schutzhaltung, wieso eigentlich, hatten es Embryos nicht reichlich eng? Sollte das Eingezwängtsein im Mutterleib  etwas Gemütliches sein? Für sie ganz bestimmt nicht. Bei der Mutter. Trotzig streckte sie die Beine lang aus, die Zehen schauten aus der Decke, besser so; auch wenn an ein Wiedereinschlafen nun nicht zu denken war. Das Geseufze? Ach, immer noch die Spülmaschine. Das Kissen auf dem Ohr klemmte, musste weg, nützte sowieso nicht. Hatte sie eigentlich das Fenster gekippt? Frischluft unter dem Rollladen. Ja oder nein? Nachschauen oder nicht? An was anderes denken? Unmöglich. Sie drehte sich um, weg von der Wand, ließ sich am Fenster was sehen? Alles finster. Kein Schimmer. Kein Lufthauch. Also musste sie nachschauen. Keine Chance. Sich vortasten bis zum Fenstergriff. Gekippt. Alles in Ordnung. Der Rollladen unten. Auf dem Weg zurück zum Bett blieb sie am Stuhlbein hängen, bekam gerade noch mit der linken Hand den Bettpfosten zu fassen, der rechte Zeh schmerzte, egal, schnell wieder unter die Decke. Immer noch die Spülmaschine. War da was unter der Tür?  Ein Lichtschein? Im Türspalt? Ein Flackern? Gestern Abend. Die blauen Kerzen. Auf dem Beistelltisch, auf dem Fensterbrett, auf dem Klavier. Alle gelöscht? Auch auf dem Klavier? Ging leicht, das Vergessen. Jederzeit. Sicher war ihr das passiert. Ja, nicht nur möglich, sehr wahrscheinlich. Den Kopf anstrengen, sich erinnern, die auf dem Fensterbrett, die auf dem Beistelltisch, alle ausgeblasen, aber auf dem Klavier? Gewiss nicht. Und wenn  das Klavier jetzt schon brannte? Schon Feuer gefangen hatte? Trockenes Holz. Vielleicht schon lichterloh. Die Seufzer, das war nicht die Spülmaschine. Es war das knackende Holz. Roch es nicht irgendwie komisch? Sie zog die Beine eng an den Körper, spürte mit den Knien ihren Bauch, umschlang mit den Armen ihren Brustkorb. Es war alles längst zu spät. Die Flammen wären gleich im Schlafzimmer. Was könnte sie retten? Sich selbst retten? Sie blieb minutenlang zusammengekauert, alle Muskeln angespannt, reglos. Die Feuerwehr rufen? Das müsste sie. 112 oder 110? Das Handy? Die Hand tastete ins Leere. Fand den Nachttisch. Nichts. Unter den Tisch gerutscht? Unter das Bett gefallen? Oder im Wohnzimmer geblieben? Keine Rettung möglich. Mutterseelenallein. Embryostellung hin oder her. Die Flammen. Sie zog die Decke über den Kopf und die Beine noch enger an den Körper. So fror sie nicht. Bald würde sie sowieso nicht mehr frieren. Die Flammenhitze. Bald. Wie viele Minuten blieben ihr noch?

 

(c) Angela Schmidt-Bernhardt


Sizilianische Nacht

 

Paula lief durch die dunklen Gassen und war sicher, dass sie an der nächsten Ecke wieder auf die Straße zurückkommen würde, an deren Ende eine Kirche stand vor der sie ihr Wohnmobil geparkt hatten.
Heftig hatte sie sich gerade mit Ralf gestritten und jeder meinte den richtigen Weg dorthin zu wissen in dieser verwinkelten Sizilianischen Stadt. Es war wieder einer dieser aussichtslosen Machtkämpfe gewesen, die entstehen, wenn man sich zu lange auf der Pelle hängt.
Schließlich war sie mit den Worten "wir werden ja sehen, wer zuerst am Wohnmobil ist" in eine Gasse eingebogen, die sich als sehr eng und finster herausstellte.
Paulas Mut sank sofort um einige Pegel, als sie merkte, dass sie nun wirklich alleine war. Denn sie hatte gehofft, dass ihr Ralf doch folgen würde.  Ihr Handy hatte sie im Wohnmobil gelassen.
Nun ängstlich geworden lief sie zögernd weiter. Bald darauf hörte sie ganz in der Nähe grölende Männerstimmen aus dem Dunkel der Gasse und das Geräusch von auf dem Pflaster aufschlagenden Glas. In hektischer Angst versteckte Paula sich in einem Durchgang zu einem kleinen Innenhof.
Drei offensichtlich nicht mehr ganz nüchterne Männer, stolperten bald darauf an ihrem Versteck vorbei. Der lautstarken italienischen Unterhaltung konnte sie leider nicht gut folgen, aber irgendwie kam ihr alles vulgär und bedrohlich vor, was sie hörte.
Langsam entfernten sich die Stimmen und sie atmete erleichtert auf.
Als sie aus dem Innenhof auf die Straße trat war es wieder still. Nur noch wenige Fenster schickten ihr schummriges Licht in die Gasse. Irgendeine unsichtbare Hand musste den Lichtschein der Straßenlaternen schwächer gedreht haben, es kam ihr alles dunkler vor, als vorher. Reumütig dachte sie an Ralf und daran, dass sein Weg vielleicht doch zielführender gewesen war.
Paula hatte keine Ahnung, auf welchem der zahlreichen Kirchenplätze ihr Wohnmobil stand, denn in der Dunkelheit waren zwischen all den krummen und schiefen Dächern die Silhouetten von einigen Kirchtürmen zu sehen.
Sie ging in die Gasse zurück, aus der sie gekommen war. Auf unebenem Kopfsteinpflaster führte eine kleine Anhöhe zum Dom hinauf, vorbei an dicht gedrängten alten Häusern. Diesen Weg war sie mit Ralf schon einmal gelaufen, um sich die Stadt in der untergehenden Sonne von oben anzuschauen.
Sie versuchte so wenig wie möglich Geräusche auf dem Kopfsteinpflaster zu machen, als hätte sie Sorge, jemanden aufzuwecken. Dabei war es die Angst, gehört und vielleicht bedroht oder belästigt zu werden.
Als sie am Ende der Gasse ankam, wo sich die Wege kreuzten und wo ihr Ralf abhanden gekommen war, kam ihr die Erinnerung an das Wortgefecht, das sie mit ihm gehabt wieder hoch. Gerade war sie trotzig entschlossen den Weg zu nehmen, den Ralf gegangen war, als sie ein Motorgeräusch hörte.
In die Stille hinein fuhr ein kleiner roter Fiat, der ihr bekannt vorkam. Auf dem Rückweg mit Ralf durch die wenig befahrene Altstadt war er ihnen entgegen gekommen. Der Fahrer hatte ihnen zugenickt. Später war er noch einmal an ihnen vorbei gefahren.
Jetzt bremste das Auto neben ihr abrupt ab und wie durch Geisterhand öffnete sich die Beifahrertür. Aus dem Wageninneren hörte sie ein: “ Nix gut Ragazza so allein in der Nagkt, mussen mitfahren!“  
Sie zögerte keine Minute und stieg sofort erleichtert ein, als hätte sie nur auf dieses Auto gewartet.
Noch bevor Paula ein verdutztes „Grazie“ stammeln und zur Besinnung kommen konnte, startete der kleine Flitzer durch. Ihr flüchtiger Seitenblick registrierte einen typischen Sizilianer mittleren Alters, der erst einmal keinen bedrohlichen Eindruck machte. Aber irgendwie sah er sie eine Spur zu abschätzend an. Und mit einem Schlag wurde ihr die Situation bewusst.
Sie war mitten in der Nacht, in einer fremden Stadt auf Sizilien alleine und ohne zu zögern zu einem unbekannten Mann ins Auto gestiegen. Zu Hause, in Deutschland, wäre ihr das im Traum nicht eingefallen. Während diese Gedanken ihr Gehirn marterten, quoll aus des Fahrers Mund ein italienischer Redeschwall, der mit ein paar germanischen Brocken garniert war. Anscheinend hatte er blonde lange Haare und helle Augen sofort folgerichtig mit Alemania kombiniert. „ Warum allein, wo Hotel und Mann und was macken wir jetzt“ hörte sie aus seinen Fragen heraus.
„Oh, mein Gott“, schoss es Paula durch den Kopf, wenn ich ihm jetzt sage, dass ich in keinem Hotel gemeldet bin, dass wir auf irgend einem der vielen Kirchenvorplätze dieser Stadt von dem ich keinen Namen weiß mit dem Wohnmobil stehen und mein dämlicher Freund mich einfach in die Nacht hat laufen lassen, dann kann er mich auf jede erdenkliche Art verschwinden lassen.
Kein Sherlock Holmes  dieser Welt käme ihm jemals auf die Spur.
Im Geist sah sie sich schon von einer Mafiabande missbraucht und in Beton eingemauert.
Während der Angstschweiß langsam die wohlbekannte Bahn zwischen den Wölbungen ihres Oberkörpers hinunter floss, legte sich plötzlich seine Hand auf ihren Oberschenkel, anscheinend, um seiner wiederholten Frage nach dem Hotel noch einmal Nachdruck zu verleihen.
Diese Hand lag wie ein Brenneisen auf ihrem Bein und in Panik fing sie sofort an, gegen diese Hand anzureden, mit allen italienischen Redewendungen, die sie je in ihrem Lehrbuch mit dem glorreichen Titel „Si, parlo Italiano“ gelernt hatte.
Die fehlenden Vokabeln ergänzte sie mühelos mit deutschen und englischen Worten, was sich für seine Ohren wahrscheinlich merkwürdig anhören musste:
„Io solo gerannt ohne ragazzo, molto stresso in parlare with him. Lui bestimmt in Sorge and telefono carabinieri. Our machina stare on plazza del duomo. Io tedesca my indirizzo is Frankfurt…….“ und so fort. Sie erfand dreisprachig eine rührselige Geschichte nach der anderen, während sich die Hand langsam von ihrem Knie entfernte. Daraufhin ließen ihre Schweißausbrüche wieder etwas nach.
Mit leicht unwillig gerunzelter Stirn fragte er Paula, ob sie verheiratet sei und ob sie den ersten Urlaub in Italien verbringe. Sie bejahte ersteres, obwohl ihr eine Eheschließung mit Ralf in Erinnerung an dem letzten Streit jetzt gerade nicht vorstellbar war.
Außerdem versicherte sie ihm, dass sie und ihr Mann schon ganz oft in Italien gewesen seien und immer und immer gute Erfahrungen, vor allem auch auf Sizilien gemacht hätten.
Die Stadt kam ihr auf einmal riesig vor und die Anzahl der Gassen, durch die sie fuhren, schien kein Ende zu nehmen.
Während der Fiat sich wieder etwas stärker beleuchteten Straßen näherte, lobte sie schlichtweg alles Italienische über den grünen Klee, angefangen von der guten Küche, den al dente Nudeln, dem ach so blauen Meer und der großartigen Lebensart der Italiener, die ihre Mama über alles liebten. Paula hatte den Eindruck immer besser italienisch zu sprechen. Sie spürte deutlich, wie fragil die Situation war, wie leicht alles kippen konnte, wenn sie jetzt aufhörte zu reden.
Ihre Fragen an ihn bezüglich einer Frau und Kindern, seinen Eltern, den Beruf und den Hobbies beantwortete er knapp und etwas unwillig. Sprachlich gewandter geworden thematisierte Paula sogar die politische Situation Italiens und fragte nach seiner Meinung die Mafia betreffend.
Seine Seitenblicke wurden immer verwunderter, er immer einsilbiger, und auf seiner Stirn hatten sich weitere Falten gebildet.
Just in dem Moment, als ihr die Worte auszugehen drohten, sah sie am Horizont der Straße die schönste aller Kirchen Siziliens, mit dem schönsten aller Plätze davor, auf dem ein wunderschönes, senfgelbes, vertrautes Wohnmobil stand!
Davor lief ein jüngerer nervöser Mann auf und ab und als er sie aus einem völlig fremden Auto steigen sah, wurde sein Antlitz bleich. Ihr Herz hatte noch nie beim Anblick eines Mannes vor einer Kirche solche Sätze gemacht und auch ihr Begleiter sah plötzlich erleichtert aus, die Falten auf seiner Stirn verschwanden.

„Ich war zu faul zum Laufen“ sagte Paula mit dem Übermut einer Siegerin, die mit viel Glück noch durchs Ziel gekommen war. Sie stellte ihren Chauffeur kurz vor und lud ihn, um die Situation zu entschärfen, zu einem Drink in den Bus ein.
Dieser, während der Fahrt immer wortkarger gewordene Mensch ergoss sich nun seinerseits in einen Wortschwall von Beteuerungen, warum er nun ganz dringend in seine Casa müsse, da ihm seine Donna sonst die completo nagkt bis domani eine predica halten würde und das molto parlare sei ja die reinste tortura für einen Mann.
Schnell schlug er die Tür zu und im Nu wurde der kleine Fiat von der nächsten Gasse verschluckt.
Im Anschluss an Ralfs „Predica“ folgte dann doch noch eine versöhnliche Aussprache, in deren Verlauf sie die Hand des Sizilianers auf ihrem Knie wohlweislich verschwieg. Als sie im Bett lag, dachte sie daran, wie anders doch alles hätte ausgehen können.
 „Sich um Kopf und Kragen reden“, kam ihr in den Sinn.
Ja, das hatte sie getan, nur eben im umgekehrten Sinne.

(c) Hermine Geißler


„ Stille Nacht“

Inmitten der Nacht
ist der Säugling erwacht
er schreit laut mit voller Kraft
nach Füttern und Wickeln bist du geschafft

Das Baby wird ruhig, doch jetzt: schnarchen und pusten
röchelnder Atem und rasselnder Husten
von deinem Partner im Bett
du gehst auf´s Klosett

Er hört nicht auf, du bekommst keine Ruh
du hältst ihm deshalb die Nase zu
doch er lässt sich nicht stören
du musst es noch lange weiterhören

Grad eingeschlafen, da jault der Hund
was soll denn das, ist der nicht gesund?
Oje, er hat Durchfall, er muss dringend raus
du nimmst die Leine und gehst aus dem Haus

Dann draußen ein weiteres Ärgernis
das geschieht in der nächtlichen Finsternis
ein Marder zerfrisst vom Auto die Kabel
zwar reparabel, jedoch inakzeptabel

Du hast genug für diese Nacht
sie hat dir keine Erholung gebracht
du wolltest stille Geborgenheit
und nicht Stress und Schlaflosigkeit

Früher war Nacht und Dunkelheit
hauptsächlich eine besinnliche Zeit
das ist lange her
es gilt längst nicht mehr

Paris, London, New York – die Metropolen
haben uns nächtliche Ruhe gestohlen
Leuchtreklame, blinkend und grell
U-Bahn und Blaulicht, laut und schnell

Fitnessstudios, rund um die Uhr
Immer mehr Kunstlicht und wenig Natur
Pubs und Bars, Parties und Bier
rufen nach dir


Alkohol, Kokain und die Nacht
wird durchgemacht
Wir sind hier bei uns noch nicht ganz so weit
bisher nur: Nacht der Kunst und Marburg b(u)y night

Wollen wir sein wie die Metropolen?
Oder sollten wir Rat bei den Zugvögeln holen?
Sie würden wohl sagen: wir hätten gerne
wieder tiefschwarze Nacht und funkelnde Sterne

(c) Sonja Sommerfeldt


’’WIE VOR HUNDERT JAHREN’’

Mit einem Ruck fuhr Lisa aus dem Schlaf hoch. Sie lauschte in die Stille, und obwohl sie nicht hätte sagen können, was sie geweckt hatte, brach ihr plötzlich der Schweiß aus.
’’Lisa?’’ Die Stimme ließ sie herumfahren.
Im Dämmerlicht, das durch die halb heruntergelassenen Jalousien fiel, erkannte Lisa einen Mann in der Ecke ihres Schlafzimmers.
’’Johannes!’’, entfuhr es ihr. ’’Was machst du hier’’?
Obiger Anfang von Kathrin Lange (Autorin; Herausgeberin der Federwelt von 2002-2004)

Wir sind doch erst morgen verabredet,  ’’Auf der Weide’’, du Schaaf’’-. Lisa griff nach ihrer Brille auf dem Nachtisch und schaltete die 20-Watt-Bettlampe an. Erst jetzt konnte sie ihn von Kopf bis Fuß betrachten.
’’Warum trägst du diesen schwarzen Anzug?’’, fragte Lisa. ’’Heute will ich etwas  erleben’’, sagte er und fuchtelte mit seinem Sparzierstock vor ihrem Gesicht herum. Sie erschrak und rutschte zur anderen Bettseite.
Dort  stand eine Frau am Fußende mit einem Cocktailkleid. Ihre Schultern waren mit einer Stola bedeckt und  auf dem Kopf wippte ein Sommerhut unter dem dunkelbraune Haare hervorquollen. Die Hände trugen 3/4lange Handschuhe und eine Tasche hing in der rechten Armbeuge. Sie lächelte ihr huldvoll zu und stellte sich als ’’Marlies’’ vor. ’’Ich  wohne im ’’Ars Vivendi’’ in der Seniorenresidenz in der Innenstadt’’.


Während Lisa überlegte, was sie antworten sollte, bohrte ihr jemand einen Finger in den rechten Oberarm. ‚’Ich bin O-o-o-o-otto und kom-m-me von St.st,st Jakob’’, stotterte er.

Schnell rutschte Lisa wieder zur Bettmitte. Jetzt spürte sie wieder, warum ihr der Schweiß  ausgebrochen war. Mit so vielen Menschen auf engem Raum, konnte sie es noch nie aushalten.  Der unangenehme Geruch von verbrauchter Luft stieg ihr in die Nase. Unwirsch fragte sie:’’Wie viele seit ihr?’’. ‚’Wir sind nur zu Dritt’’ antworteten sie gleichzeitig, fast gleichzeitig, Otto war das Echo. Sie spürte Erleichterung, wies aber Otto an, sofort das Fenster zu öffnen und die Jalousien hoch zu ziehen. Er legte seine Kappe, die er ständig zwischen seinen Fingern trete, auf ihr Bett, war mit zwei Schritten am Fenster, öffnete es, zwar mit zittrigen Fingern, aber  flink. Zügig zog er die Jalousien hoch. Wegen seiner dürren Gestalt hätte sie ihm diese Kraft nicht zugetraut. Erst jetzt sah sie, dass er in eine für ihn viel zu weiten Anglerhose steckte und dazu trug er Gummistiefel, mindestens Größe 48, schätzte Lisa. Er sah ihren erstaunten Blick, bezog es auf seine körperliche Kraft, und sagte verlegen, ’’Ich bin Angler gewesen und habe immer die Hechte aus der Lahn gezogen’’.

Lisa schaute von einem zum anderen und begriff nichts mehr. Ob ich träume,  fragte sie sich? Gesternabend war es spät geworden, weil sie mit einer  Freundin ihre Examensarbeit durchgesprochen hatte.  Deshalb  benötigte sie dringend, mindestens sechs Stunden Schlaf und wenn sie den nicht bekam, konnte sie ungemütlich werden. Die Drei sahen mit verständnisvollen Blicken auf sie herab, wie auf ein Kleinkind mit dem sie Geduld haben sollten. Lisa schaute auf die Uhr. Als sie die Anzeige auf dem Zifferblatt sah wuchs ihre Ungeduld. Sie wickelte sich fester in ihre Bettdecke, da jetzt ein frisches Lüftchen durch das Zimmer zog.

’’Was wollt ihr von mir?’’ Sie trommelte ungeduldig mit ihren Fingern auf die Bettdecke. Lisa sollte sich erst mal beruhigen, dann würden die Drei  ihr alles erklären.
’’Ich rege mich nicht auf’’ behauptet sie, verschränkte die Arme und sagte: ’’Nun, ich höre’’:

Johannes holte tief Luft, aber bevor er ausatmen konnte, unterbrach ihn Marlies und meinte „Ladies First“. Er verrollte die Augen, stütze sich auf seinen Sparzierstock und stierte Löcher in die Luft.

’’Ich bin nun achtzig Jahre’’ begann Marlies zu erzählen, und lebe  inzwischen schon einige Jahre in dieser Residenz. Tagsüber habe ich Unterhaltung, obwohl mir das ständige Gerede über Krankheiten auf die Nerven geht. Ich bin Topfit, kann nachts aber nicht schlafen und möchte jetzt wieder mal tanzen gehen wie damals:
’’Ja, ja wie damals, wie vor 100 Jahren’’ sagten Johannes und Otto wie aus einem Munde“.

 

Marlies ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.’’Es gibt doch diese Tanztreffs für Single’s.  Und sie Johannes kommen mit’’, bestimmte sie.
’’Nein, nein, tanzen ist nichts für mich, ich will endlich mal, wieder ins Spielkasino’’.

’’Du ins Spielkasino’’ fragte Lisa entsetzt. ’’Hast du mir nicht erzählt, ein Pater gewesen zu sein’’. ’’Nun ja, das ist schon richtig’’ sagte er, peinlich berührt. Er konnte sich nicht erinnern, ihr dass erzählt zu haben. ’’Aber Pater und Glückspie’’, bohrte Lisa weiter. ’’Am Tag danach habe ich es ja immer gebeichtet’’, antwortete er trotzig und stampfte mit seinem Sparzierstock Löcher in den Boden.

’’Wenn es nicht gerade die Kollekte war, wollen wir ihm verzeihen und mit einer gönnerhaften Handbewegung warf Marlies ein Stolaende über ihre Schulter’’.
Johannes wollte antworten, aber Marlies sprach weiter.’’Ich möchte auch mal eine Spielbank von innen sehen und das Flair des Geldes spüren und einige  Euros setzen. Ich liebe ich das Risiko und wer weiß, vielleicht gewinne ich sogar.  Wir  könnten erst tanzen und dann ins Spielkasino gehen’’, schlug sie vor.

 

Inzwischen versuchte Otto immer noch verzweifelt zu Worte zu kommen, indem er immer wieder seinen Arm hob, wie einst in der Schule. Dabei entglitt ihm die Angel und  der sich selbständig machende Blinker verhakte sich in Marlies Cocktailkleid. Ausgerechnet am Saumende in der kostbaren Spitze. Marlies erschrak und schrie auf.
Otto stand wir erstarrt an seinem Platz.
Marlies schrie ihn an, „er sollte endlich in die Gänge kommen und sie von diesem Blinker befreien, bevor ihr Kleid völlig ruiniert sei. Ich muss das Kunststopfen lassen“, sagte sie „und dass ist ganz schön teuer“.
Otto löste sich endlich aus seiner Erstarrung und versuchte das Cocktailkleid von dem Blinker zu befreien, wobei sich das schwierig gestaltete, weil Marlies so herum zappelte. Es ging ihr nicht schnell genug. Otto stand der Schweiß auf der Stirn. Endlich hatte er es geschafft und bot Marlies an, die Flickkosten zu übernehmen. Ob sie denn mit einigen köstlichen Hechte einverstanden wäre.
Marlies riss den Mund auf, es knackte mal wieder das Gebiss und dieses Mal dauerte es einige Sekunden bis sie wieder sprechen konnte.

 

Lisa nutzte die günstige Gelegenheit und fragte Otto nach seinem Wünschen.

’’Ich würde gerne mal wieder bei Vollmond angeln gehen’’, kam es stotternd über seine Lippen, während er seine Kappe nahm und wieder zwischen seinen Fingern drehte.
’’Dann geh doch’’  schnauzte Johannes ihn an.
Lisa zog die rechte Augenbraue nach oben und schaute mit rügendem Blick in Richtung Johannes. Diesen Blick kannte er und es war besser, den Mund zu halten.

Lisa ermunterte Otto, zu erzählen.
Verschüchtert schaute er unter sich und begann stotternd:

’’Früher, vor 100 Jahren, war ich im Anglerverein ’’Tolle Hechte’’.
   
’’Ja, ja, wir wissen, wie damals, wie vor 100 Jahren’’, grinsten sich Marlies und Johannes an’’.
 
’’Ja, mit Freunden bin ich oft am Wochenende zum fischen gegangen. Im Frühling und Sommer haben wir uns früh morgens an der Lahn getroffen, um zu angeln. Trotz meiner  Freunde fühlte ich mich allein mit der aufgehenden Sonne, dem Wasser und den Fischen’’. Seine Worte kamen jetzt flüssiger über seine Lippen.
’’Ich liebte es, weil ich die arbeitsreiche Woche und immer das Gezänke mit den Kindern und meiner Frau vergessen konnte. Elli, meine Frau war mit meiner Angelei nicht einverstanden, weil ein Tag vom Wochenende fehlte und sie lieber, gemeinsam mit mir und den Kindern, etwas unternommen hätte. Manchmal bin ich ohne Fisch nach Hause gekommen, aber dann war der  Ärger groß’’.

 Otto wurde lauter und die Worte sprudelten jetzt nur so aus ihm heraus. ’’Ja, meine Elli war stark, körperlich, stimmlich und sie bewältigte alle Schwierigkeiten. Sie nähte und flickte Kleidung für unsere drei Mädchen und den Jungen, kümmerte sich um die Schulaufgaben und brachte immer etwas zu essen auf den Tisch und alle wurden satt. Plötzlich machte er eine Pause und sprach leise weiter. „ Als wir noch jung und verliebt waren, da habe ich meine Elli einmal mitgenommen zum angeln, bei Vollmond, wo ich ihr einen Heiratsantrag machte und deshalb möchte ich noch mal angeln bei Vollmond, um meine Elli, ’’Gott hab sie selig’’ um Verzeihung zu bitten, dass ich sie so oft alleine gelassen hatte’’.

Johannes unterbrach die plötzliche Stille im Raum. ’’Otto, geh  beichten. Es hört dir einer zu und es wird dir verziehen’’.
’’Typisch Mann“ kicherte Marlies. ’’ Pater und kein bisschen romantisch. Sie sollten Ihre Frau um Verzeihung bitten Otto, und wir kommen alle mit’’.
’’Nicht so theatralisch bitte’’, meinte Johannes.
’’Bei mir und meinem Mann hat es auch sehr romantisch angefangen:
’’Ja, ja, wir wissen, wie vor 100 Jahren’’, sagte Johannes und Otto stotterte hinterher’’.
Ja, sagte Marlies: ’’In jungen Jahren war ich  sportlich sehr aktiv und in den Tanzpalästen zu finden. Ich liebte damals, wie heute,  die Schlager  von Glenn Miller. Noch heute habe ich Langspielplatten von ihm. Bei seinem berühmten  ’’In the Mood’’, verliebte ich mich in meinen Hans. Und mein  erstes Kind nannte ich
’’Mei Inthemoodsche’’ (Frankfurter Dialekt)
 Marlies strahlte und sie sah viel jünger aus. Ihr Blick verlor sich im Raum.
Morgen früh um 7 Uhr ist die Welt noch in Ordnung, ertönte es aus dem Radio.

(c) Ursula Engel


Lesung am 26.05.2019 in Marburg Ein Tag für die Literatur (Literaturland Hessen hr2 kultur) zum Thema - „Das Bild ist die Mutter des Wortes“ (Hugo Ball) - mit eigenen Texten zu ausgewählten Bildern des Kunstmuseums Marburg Die Bilder sind zu finden - Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte - Bildarchiv Foto Marburg - Philipps-Universität Marburg unter dem Link: https://www.uni-marburg.de/de/fotomarburg


Gänsetreffen an der Lahn

(Gänse auf dem Weiher vor 1927 von Adolf Lins)

 

Einführung zum Text:
Sonntagsmorgens, immer Sonntagsmorgens erklingen aus den hinteren Gassen Marburgs französische Chansons.
Das entdeckte eines Tages die Gans Colette. Sie hat französische Vorfahren.
Seit dieser Zeit findet das Gänsetreffen bei Liesel an der Lahn statt.
Colette kommt mit ihren Kolleginnen und Freundinnen im Schlepptau
Es geht Turbulent zu – und was die so ratschen und tratschen, dass erzähle ich jetzt
------------------
Brunhilde schaut sich um und stellt fest, dass die dicke Berta wieder nicht pünktlich ist. „Das macht die mit Absicht“ grantelt sie vor sich hin. „Verdirb uns nicht die Laune“ meint Hildegard, die Sportlerin und
überzeugte Veganer in. „Treibe doch mal ein bisschen Sport, z.B. Ausdauerpaddeln im Wasser, dann bist du nicht immer so schlecht gelaunt. Schau mich an, ich treibe Sport, esse vegan, ich will nämlich nicht
geschlachtet werden“.
Brunhilde atmet langsam ein und aus, bevor es aus hier herausplatzt:
„Du musst mich nicht maßregeln und schau dich doch mal an, du siehst aus
wie so eine Hungerleiderin, so will ich nicht rumlaufen“.
Hildegard denkt, die hat doch keine Ahnung, kommentiert diesen Ausbruch von Brunhilde nicht, wendet sich Lisa zu und zeigt auf den Weg, entlang der Lahn, wo Berta angewatschelt kommt.
Brunhilde sieht es, was ihre Laune aber nicht verbessert. Sie schimpft:„warum läuft die auf dem Weg, muss Fahrrädern und vielen Füßen ausweichen. Mit ihrem Gewicht ist es doch leichter, wenn sie in der
Lahn angepaddelt kommt“. „Wir müssen ihr mal sagen, dass sie aufhören soll, zu viel Hafer zu fressen, sonst besteht die Gefahr, dass sie bald geschlachtet wird. Sie muss ja nicht so dürr werden wie unsere Hildegard, kann Brunhilde sich nicht verkneifen, anzumerken. Im Fernsehen bieten die Ernährungs-Doc-s „Intervallfasten“ an, 16 Stunden nichts essen. Man verbrennt ordentlich Fett und wird ruck zuck schlank. Das weiß sogar der Biobauer, bei dem Berta lebt, aber der hält von so etwas gar nichts.“ „Alles Schwachsinn“, sagt er.
„Das wundert mich nicht“, gibt Hildegard nun lauthals von sich, „der hat Angst wegen des Schlachtgewichtes seiner Gänse“. Colette giftet „Das hält Berta, so verfressen wie die ist, sowieso nicht durch“,
wendet sich ab, um sich mit ihren Freundinnen abseits der Gruppe aufzuhalten. Haltet endlich mal eure Schnäbel, die französischen Chansons sind kaum zu verstehen. Luise, die sich immer gerne in der Mitte der Gruppe aufhält, unterbricht das Putzen ihres Federkleides und antwortet trocken, „dann besuche doch einen französischen Sprachkurs“. „Das habe ich gehört, komme später darauf zurück“, kontert Colette.
Entgegen ihrem sonstigen  Naturell wird es Colette, beim Hören der französischen Klänge, warm ums Herz und möchte in diesen Augenblicken all ihre Freundinnen umarmen und knutschen. In der Mitte der Gruppe kündigt sich inzwischen, wie bei jedem Treffen, heftiger Zickenkrieg zwischen Anna und Paula an.

„Streiten die sich schon wieder um den Ganter „Otto“, den Schwerenöter, fragt Lisa. „Es hört sich so an, bestätigt Hildegard, „aber ich verstehe nicht warum und sie erzählt, dass sie von anderen Kolleginnen gehört hat, dass Otto es schon lange nicht mehr bringt. Laut schreit sie, „schafft euch diesen Typen endlich vom Hals, verschwendet eure Energie an einen Jüngeren, am besten zwei, das ist viel gesünder“. „Und ich bekomme nicht alle 4 Wochen nach euren Streitigkeiten Migräneanfälle, wenn ich wieder zu Hause bin“, jammert die empfindliche Sophie.

 

Endlich kommt Berta, völlig außer Puste, angewatschelt und schimpft, „Ich hab‘s satt, mich immer nach euch zu richten. Das Treffen kann auch bei mir auf dem Hof stattfinden, ich habe es schon so oft angeboten“.
„Nein, nein, das geht nicht, das kann man doch Colette nicht antun, schreien einige“, die sich bisher nicht an dem Geschwätz beteiligt haben.

Berta plustert sich auf, „Na die hat euch voll im Griff. „Ich bin dagegen, dass wir uns immer nach Colette, dieser arroganten, blöden, grauen Gans richten – die immer, mit ihrem französischen Getue.
Ich bin einige Jahre älter und erwarte Respekt“. Brunhilde, immer noch schlecht gelaunt, unterbricht den Redeschwall von Berta. „Halt jetzt endlich mal deinen Schnabel, Du bist nicht alt, du bist schon Antik.
Dann schwimmt man zu unserem Treffpunkt, statt zu laufen“. „Anscheinend bist du blind Brunhilde, ich bin hierher geschwommen“ behauptet Berta. Brunhilde verschlägt es, nach dieser Behauptung, die
Sprache. „Hoffentlich wird Berta nicht senil“, flüstert Herta, die bisher keinen Laut von sich gegeben hat, „ich habe Angst um sie“.

Luise, die sich immer gerne in der Mitte der Gruppe aufhält, war fertig mit dem Putzen ihres Federkleides. „Hört endlich auf mit eurem Gezänke, wir haben große Probleme zu lösen“. „Welche Probleme“, welche Probleme“, schnattern alle gleichzeitig. „Habt ihr noch nichts von den Nilgänsen aus Afrika gehört, die sich jetzt über all breitmachen“. Die treiben sich in Frankfurt und anderen Städten herum“ meinte die Gruppe der ansonsten schweigenden Gänse. „Wie naiv seit ihr eigentlich“, redete Luise sich jetzt in Rage.
„Die breiten sich überall rasant aus. Das dauert nicht lange, bis diese Afrikaner auch hier an der Lahn einfallen. In Niederweimar wurden ein paar Exoten schon gesichtet. Experten warnen, dass die uns, die Einheimischen,
verdrängen. Diese Ausländer sind dominant, aggressiv, biestig, machen jede Menge Dreck und dulden keine Konkurrenz neben sich.
Wir brauchen einen Plan, wie wir diese Schmarotzer aufhalten. Ich fühle mich bedroht, Otto und seine Kollegen auch. Die haben keine Lust auf Konkurrenz“. „Aber für euch zwei, Anna und Paula ist das prima“ schreit Lisa, „dann könnt ihr euch endlich von zwei Neuen beglücken lassen. Die beiden schauen sich an und meinen, „wir können sie uns mal anschauen“.

„Hört doch auf mit dem Geplänkel“ quengelt Luise. „Ich bitte um Vorschläge.
Der Gänsezaun im Frankfurter Ostpark hat ausgedient, jetzt soll eine Hainbuchenhecke gepflanzt werden, auch wegen der schöneren Ästhetik. Was machen wir“?
Brunhilde, die lange geschwiegen hat, meldet sich zu Wort. „Das Pflanzen von Hecken bringt doch gar nichts. „Ich beantrage, entlang der Grenze, rund um Marburg, unsere Duftmarken zu setzen, so dass die gleich wieder zurückfliegen“. „Ich bin dafür“ meint die dicke Berta, „aber das müssen die Jungen machen“.

„Lasst sie kommen“, schrien jetzt die Gruppe der Gänse, die sich ansonsten nicht an den Gesprächen beteiligen. Dann können wir uns immer noch entscheiden, ob wir uns vermischen wollen. Vielleicht sind da auch welche dabei, die nicht immer streiten. Die sollen immer gute Laune haben, im Gegensatz zu dir Brunhilde.

Brunhilde verschlägt es die Sprache. Luise reißt den Schnabel auf, aber bevor sie kontern kann und damit es nicht zum Eklat kommt, mischt sich Hildegard ein und erzählt, dass sie bereits einige stramme, sportliche  Ganter begutachtet hat.

Es meldet sich die ewig träumende Elisabeth, ein Freundin von Colette, zu Wort.
„Ich wünsche mir eine schillernde Erscheinung, einen Fasan. Mit seinem leuchtenden Gefieder ist der Fasanenhahn ein exotischer Anblick“ schwärmt sie. „Aber das ist doch ein Hühnervogel“, außerdem gibt es den hier nicht“, stellt die dicke Berta fest. „An fürstlichen Höfen sind sie sehr beliebt“ ergänzt Elisabeth und wendet sich pikiert ab.  „Fürstliche Höfe, wo gibt es hier fürstliche Höfe, ereifert sich jetzt auch Brunhilde.
Colette noch ganz ergriffen von der Musik, mischt sich jetzt auch ein.
„Vielleicht hat eine der Nilgänse auch französische Vorfahren, das würde mir schon sehr gefallen“.
Luise ist empört, „also das Thema ist für mich noch nicht erledigt schreit sie und paddelt davon“…..

(c) Ursula Engel


Der Zusteller
(Der Postbote im Rosenthal vor 1885 von Carl Spitzweg)

Claus Sauerwald ging mit forschem Schritt die Reitgasse hinauf. Langjährige Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass er die nicht unerhebliche Steigung des Weges so am Besten bewerkstelligen konnte. Seinen Zustellwagen, der noch mit einigen Briefsendungen versehen war, schob er vor sich her. Er hatte ihn heute zum letzten Mal im Zustellstützpunkt am Briefsortiertisch mit den Briefen gepackt. Heute war sein letzter Arbeitstag, ab morgen war er Rentner.
Er schaute nach oben. Er sah hellblauen Himmel verziert mit ein paar Schäfchenwölkchen. Es war angenehm warm, passend für den Monat Juni. Wenn er bei einem solchen Firmament von der Reitgasse in die Wettergasse schaute, fiel ihm immer das Gemälde von Carl Spitzweg "Der Briefbote im Rosenthal" ein. Die Szenerie erinnerte ihn deutlich daran. Nicht etwa, dass Claus kunstinteressiert gewesen wäre. In ihrer Familie war Claus Frau diejenige, die ein Faible für Kunst hatte. Und sie hatte es tatsächlich einmal geschafft, ihren Mann zu bewegen sie ins Kunstmuseum zu begleiten. Da war ihm dieses Bild ins Auge gefallen. Aber tatsächlich nur, weil auf diesem Gemälde ein "Kollege" von ihm zu sehen war. Ein Künstler hatte also seinen Berufsstand auf einem Werk verewigt. Und das schon 1858. Die Jahreszahl hatte er sich leicht merken können, war er doch 1958, also hundert Jahre später, eingeschult worden. Dass das Bild in einem Museum ausgestellt war hatte ihn besonders beeindruckt. Ja, dies erfüllte ihn sogar mit Stolz auf sein Metier. Er hatte schon immer gern in seinem Beruf gearbeitet. Er liebte den Kontakt zu seinen Kunden. Claus war ein offener Mensch, der gern auf sein Gegenüber zutrat und es ansprach. Daher kannte er seine Briefkunden. Er wusste um ihre kleinen und großen Sorgen. Durch seine zugewandte Art öffneten sie sich ihm schnell. Und zwar deswegen, weil sie sein echtes Interesse an ihnen spürten. Es war nicht Neugier, was diesen netten Postboten veranlasste, sie zu fragen wie es ihnen ginge, was sie bedrückte.
Claus Sauerwald hatte die Wettergasse erreicht. Als Erstes hatte er einen Brief an Frau Knieriem abzuliefern, einer alteingesessenen Marburgerin. Wie es aussah, war es ein Brief von ihrer Tochter, die mit ihrem Mann und ihren zwei kleinen Kindern in Wilhelmshaven lebte. Wie er von der Marburgerin wusste, kam die Tochter leider viel zu selten zu Besuch zu ihr. Ihm fiel ein, dass er genau jener Frau Knieriem in einer schwachen Stunde von dem Bild des Postboten im Rosenthal und seiner sentimentalen Regung dazu erzählt hatte. Wie er gehofft hatte, hatte sie davon aber nichts weitererzählt. Jedenfalls hatte er nichts davon mitbekommen. Es wäre ihm peinlich gewesen, wenn das an die Öffentlichkeit gelangt wäre. War das doch eine sehr persönliche Mitteilung gewesen.
Nun, heute fielen ihm noch einige andere Personen ein, mit denen er engeren Kontakt geschlossen hatte. Das war in der langen Zeit seiner Arbeit nicht ausgeblieben. Lag aber mit Sicherheit auch an seiner sozialen Ader.
Frau Metzger und Frau Moldau, zwei ältere Damen, die nicht mehr ganz so gut zu Fuß waren, brachte er die Briefe immer zur Wohnungstür, statt sie unten an der Haustür in den Briefkasten zu werfen. Dem blinden Herrn Kubicki hatte er auch schon mal den ein oder anderen Brief vorgelesen und bei Frau Ludwig hatte er bei einem Wasserrohrbruch geholfen, als er zufällig vorbeikam. Jedes mal wenn er Frau Förster mit ihrem schweren Einkaufswagen begegnete, hatte er ihr die Tasche die Wettergasse bis zu ihrer Wohnung hinaufgetragen. Von Herrn Kramer hatte er Briefe entgegengenommen, weil dem nicht beizubringen war, dass er diese auch selbst in den Briefkasten werfen oder zur Post bringen konnte. Jedenfalls hatte Claus Sauerwald immer ein offenes Ohr für seine Kunden gehabt. Heute war er noch keinem von ihnen begegnet, obwohl er sie sonst oft antraf. Er war enttäuscht darüber. Er hatte nämlich in den letzten Wochen da und dort die Bemerkung fallen lassen, dass er heute seinen letzten Arbeitstag hatte. Er rechnete damit, dass doch der eine oder andere seiner Kunden sich persönlich von ihm verabschieden wollte. Momentan sah es aber nicht so aus. Frau Anders, die nette Verkäuferin aus dem Schokoladengeschäft schaute heute noch nicht mal auf, als er ihr die Geschäftspost in den Laden brachte. Gut, dann war es ebenso. Dann würde er sang- und klanglos von der Bildfläche verschwinden. Dieser Gedanke gab ihm jedoch einen Stich im Herzen. Er hatte gedacht, dass er im Leben seiner Kunden eine größere Rolle gespielt hätte.
Er ging den Steinweg hinunter. Am Ende des Weges hatte er noch in dem Lokal an der Ecke einen Brief abzugeben. Merkwürdig. Es war ein privater Brief an den Besitzer. Dort ging sonst nur Geschäftspost ein. Dann gab es also tatsächlich eine Neuerung an seinem letzten Arbeitstag.
Er war vor der Tür des Lokals angekommen. Er drückte die Klinke herunter und trat hinein. "Alles Gute zur Rente, Herr Sauerwald", tönte es ihm entgegen. Ihm blieb der Mund offen stehen. Alle seine Kunden, die er heute vermisst hatte, standen vor ihm. Wie er sehen konnte, war hinter ihnen ein Buffett mit verschiedenen Salaten, Brot, Käse und anderen Speisen aufgebaut. Herr Münzer vom Kunstverein trat ihm entgegen. "Mein lieber Herr Sauerwald. Wir haben uns hier zusammengefunden, um Ihren letzten Arbeitstag mit Ihnen begehen zu können. Wir wollen zusammen essen und trinken. Dies ist unser Dank an Sie, da Sie uns die letzten Jahre immer zuverlässig mit unserer Post versorgt haben. Auf Sie war immer Verlass, Sie haben mehr gegeben als sie mussten. Als besonderen Dank haben wir da noch eine Kleinigkeit für Sie. Bitte sehr."
Herr Münzer griff nach hinten und holte ein Bild hervor. Es war ein Gemälde und zwar "Der Postbote im Rosengarten". Claus Sauerwald blieb die Luft weg.  Herr Münzer räusperte sich. "Herr Sauerwald, Frau Knieriem hat uns erzählt, dass Sie dieses Gemälde lieben, da es eng mit ihrem Beruf verbunden ist. Ich und meine Freunde aus dem Kunstverein haben eine Kopie des Gemäldes für sie erstellen lassen, ich möchte es Ihnen hiermit überreichen."
Total verdattert nahm Claus Sauerwald, der Zusteller der Oberstadt, "sein" Bild entgegen. Also hatte Frau Knieriem den Mund doch nicht gehalten. War nicht schlimm.


© Rainer Güllich


 

Gedanken einer Schauspielerin
(Das Fräulein d’Andrade da Costa 1893 von Friedrich Ferdinand Koch)

Heloisa steht am Fenster und hält nach ihrem Geliebten, Abelard, Ausschau.
Anfangs stehe ich noch barfuß am Fenster, und das bei der Kälte hier im Theater! Für die Proben wird einfach nicht geheizt! Ich kriege es bestimmt noch an der Blase, denn mich friert wie ein Hund!
Und Harry ist immer noch nicht zufrieden obwohl wir schon zum 10. Mal dieselbe Szene proben! Ich kann nicht mehr!
Nach der ersten Probe musste ich ein Fußbad nehmen, weil meine Füße blau gefroren waren, was optisch nicht gut rüber kommt!
Immerhin darf ich jetzt dicke Socken zum wallenden Gewand tragen, natürlich nur bei den Proben. Später, in der Vorstellung soll ich barfuß auf Abelard zu tänzeln, so will es die Regie!
Harry, der Intendant und Regisseur des Seifenburger Stadttheaters ist ein pedantischer Choleriker, der mit nichts zufrieden ist!
Licht zu dunkel, Licht zu hell, die Schleppe nicht richtig drapiert, die Hand nicht anmutig genug am Fensterknauf gehalten, das Lächeln nicht sinnlich!
Wie soll man in so einem engen Mieder sinnlich lächeln! Zudem riecht das Gewand aus dem Theaterfundus nach Mottenkugeln und zwickt scheußlich! Von der Perücke will ich gar nicht erst reden! Wie Blei liegt der muffige Geruch auf meinem Magen.

Wer hat sich nur so eine Mode ausgedacht? Da konnte Frau ja nur in Ohnmacht fallen, geschweige denn, vor irgendwas weg rennen! Und an eine sättigende Mahlzeit war auch nicht zu denken in dieser Einschnürung.
Ich frage mich, wie Harry auf die Idee gekommen ist „Abelard und Heloisa“ aus der mittelalterlichen Versenkung auf die Bühne zu holen. Und dann noch in dieser hochgradig verstaubten Inszenierung! 
Abelard und Heloisa. Sie eine Tochter aus dem Hochadel, er ein Philosoph und Wissenschaftler, der  im 12. Jahrhundert als Scholastiker überall aneckte und zeitweise Heloisas Hauslehrer war.
Ein Liebesdrama ohne Happyend.  Beide mussten nach der Geburt ihres Kindes ins Kloster gehen und konnten sich fortan nur noch aus der Ferne anschmachten.
Diese antiken Liebesdramen kennen wir eigentlich schon zur Genüge,
siehe Romeo und Julia, Orpheus und Eurydike, Venus und Adonis etc. etc!
Heute wollen die Leute Musicals sehen oder wenn schon Klassiker, dann modern inszenierte Stücke mit verrückten Bühnenbildern. Don Carlos im Armani-Anzug der zwischen Betonquadern umherläuft oder wie in London bei Lady Macbeth, die in einer Art Bahnhofsklo ihren mordenden Mann unterstützt der eine Wehrmachtunform trägt. Was würde Shakespeare wohl dazu sage?
In der nächsten Szene, die wir jetzt proben, soll ich am geöffneten Fenster rufen „wo bleibst du mein geliebter Abelard“.
Wenn Abelard dann auf der Bühne auftaucht, muss ich ihn küssen, dabei riecht Rudi, der den Abelard gibt, meistens nach Zwiebeln, weil er vor der Probe oft einen Döner isst! Ich habe mir das ein für alle Mal verbeten, aber er meinte achselzuckend, er müsse doch was Gescheites essen in der knappen Zeit zwischen seinem Zweitjob und der Probe! Er arbeitet nämlich neben der Schauspielerei, von der man ja bekanntlich nicht leben kann, noch als Auslieferer beim Hermesversand. Tja, ich frage mich, wovon oder von wem Abelard wohl gelebt hat. Sicherlich von der betuchten Familie im Hintergrund.
Ich muss, wie Rudi, auch natürlich nebenbei noch jobben, damit ich die horrende Miete bezahlen kann. Ich führe morgens den Hund einer stark übergewichtigen, pensionierten Professorin aus und zweimal die Woche besuche ich einen dementen Geschäftsmann im Nobelseniorenheim Goldgrube und spiele mit ihm Offiziersskat, das kriegt er noch hin!
Richtig verdienen kann man als Schauspielerin nur, wenn man Senta Berger oder Gudrun Landgrebe heißt.
Tja, Heloisa musste sich mit dem schnöden Mammon nicht herumschlagen, aber dafür hatte sie zu machen, was die Familie, der Stand und die Moral verlangte.

Jetzt ist Szenenwechsel: Heloisa verkündet ihrem Abelard, dass sie schwanger ist. Ich muss auf den Knien liegend seine umschlingen und schluchzend heraus pressen: „Schande über uns“.
Auch hier wieder Schwierigkeiten mit der Schleppe meines Gewandes, die partout nicht dekorativ liegen will! Rudi hilft mit dem Fuß nach, Harry brüllt!

In der nächsten Szene proben wir den Abschied, als Heloisa auf Wunsch ihres Geliebten ins Kloster gehen muss, nachdem sie ihren Sohn, im Haus von Abelards Familie entbunden hat. Um alles nachträglich glatt zu bügeln, hat Abelard sie vor ihrem Eintritt ins Kloster heimlich geheiratet. Heimlich deshalb, weil sein Leben doch der Wissenschaft gehörte und er frei sein wollte. Und im Kloster konnte seine Heloisa keinen anderen mehr heiraten.
Doch er bekam auch sein Fett weg!
Heloisas Onkel fand die Liebschaft und heimliche Hochzeit nämlich gar nicht standesgemäß und er ließ Abelard kurzerhand kastrieren. Der überlebte die Verstümmelung, aber es blieb ihm dann auch nichts anderes übrig, als sich als Mönch ins Kloster zurück zu ziehen. Fortan hatte das Paar nur noch Briefverkehr der es aber immerhin berühmt machte. Denn Heloisa war eine begabte Schriftstellerin.

So, jetzt proben wir die Szene, wo Heloisa für den Konvent eingekleidet wird! Seidengewand aus, frieren im Unterrock, kratziges Nonnengewand an und ich muss dabei beten und darf unter keinen Umständen mit den Zähnen klappern!
Gott, was müssen die im Mittelalter gefroren haben in diesen alten, meist ungeheizten Gemäuern. Wie gut, dass ich in der heutigen Zeit Klimaunterwäsche und Daunenjacke anziehen kann, zumindest außerhalb der Schauspielerei!
Danach sehne ich mich gerade, denn selten habe ich in einer Rolle so gefroren!
Aber ich muss mich nur noch durch den Schlussakt  bibbern. Da bringt mir der Abt nach Abelards Tod die Gebeine des Geliebten zur Bestattung ins Kloster.
Davon hatte die Ärmste nun auch nichts mehr, außer dass sie ihren Traummann
22 Jahre überleben durfte!
Na ja, immerhin fanden beide dann im Tod in einer gemeinsamen Begräbnisstätte noch zueinander.
Etwa eine Stunde dauert die Probe noch und ich muss versuchen, mich in die arme Klosterschwester Heloisa und ihre unglückliche Liebe zu fühlen.
Dabei höre mal wieder die Stimme meiner Mutter im Ohr: “Kind mach eine Banklehre, da hast du geregelte Arbeitszeiten, ein gutes Einkommen und warme Füße“!

© Hermine Geißler


Schwachstellen

(Der Ausrufer 1885 von Theodor Matthei)

 

Sie wägen, halten inne,
stark sind die Werte, unvergänglich,
In der Mitte der Landmann, schwer im Wort
Und seiner selbst gewiss. Aufmerksam
Für das Werden, Wachsen, und was die Scholle hergibt.

Der alte Mann hat seine Meinung, wenn auch die Kraft
für mehr nicht reicht. Die Hand am Ohr
fügt sich die Altem ins Geschick. Die Männer sind es,
die entscheiden.

Die Junge wiegt den Moment
der Rast  in ihrer Hand und träumt sich fort.
Ganz ohne Wissen
um das eingezäunte Hier und Dort
übt die Kleine mit dem roten Häubchen
die ersten Schritte. Sie weiß nichts von dem Wolf,
der hinter  Zäunen späht.
Und wie der Vater steht 
der Sohn, ein Kind noch,
aufmerksam. Eines Tages
hat auch sein Wort Gewicht.
Die Scholle bleibt,
vergänglich ist der Mensch.
Und innen in der Leinwand wispern
Risse im Tuch der Zeit.

© Elke Therre-Staal  


 Kaktusblüte
(Stilleben um 1920 von Gottfried Diehl)

Nebelwolken empfangen mich in der Galerie. Die Marmortreppe hinauf gehend begegne ich Epochen. Üppiges umgibt mich, Modernes, Altes.
Ich betrachte das Stillleben vor der stahlblauen Kachelwand. Lasse mich ein, und sehe… uns beide.
Gesichter im Fotorahmen, herb, wie Pergament unsere Haut.
Das Buch, wortlos auf dem Tisch.
Die fleischrosa Schnittverzierung kann es nicht schützen gegen Staub und Abgegriffen werden.
Ich will ins Gemälde.
Dinge wegnehmen, gegen andere austauschen, verändern. Die leere Seite umblättern…
Unser Lebensentwurf… unter dem aufgeschlagenen Buch zusammengerollt schnellt er unter unseren Köpfen noch einmal empor.
Als die Blüte aus dem Kaktus wuchs, rot wie eine Tulpe, bestand noch Hoffnung.
Der Krug daneben mit Wasser gefüllt.
Der Kaktus hat keine Stacheln, es ist einer dieser freundlichen Sorten, man braucht keine Angriffe zu fürchten, wenn man sich ihm nähert.
Und doch…
Die Schublade, ich will sie schließen, weil ich in ihr die Worte nicht finde.
Eine Etage tiefer, Gemälde einer anderen Zeit.
Kirchgang, Trachtenfest, Mutterglück. Harren, bis der Tod sie scheidet.

Noch können wir zurück ins Blau.
Oder Leinwände mit Kaktusstacheln perforieren.
Damit wir leichter durchbrechen, was uns trennt.

© Kerstin Fuchs


 AUGEN 
(Zwei junge Frauen 1926 von Peter Christian Rasmussen)

Charlotte, kommst du?
- Gleich
Wo bleibst du denn?
- Bitte, lass mich doch
Wir müssen los
- Ja ich weiß
Nun mach schon
- Nur noch eine Minute
Aber du bist doch schon ewig hier
- Nee, glaub nicht, hab das Bild gerade erst entdeckt
Dann mach doch ein Foto
- Nein, bloß nicht
Dann mach ich das eben
damit wir hier endlich mal wegkommen
- Nur noch einen Moment
Ich druck es dir für dein Zimmer aus, zwei hübsche Damen
-  Lass mich...ich brauch nichts fürs Zimmer
Ich versuch mal, dass die Farben im Drucker gut rauskommen, der rote Fächer hat fast die Farbe von unserer Wand im Esszimmer
- Die Augen ziehen mich
Dann mach aber mal hin, wir müssen los
- Die Augen...
Ich hol schon mal das Auto aus dem Parkhaus. Ich warte im Auto auf dich
- Ja ja
Mit dem Farbausdruck war er zufrieden. Auf den Drucker war Verlass. Das Bild auf dem Küchentisch. Neben ihrem Platz. Der war leer.
Am Abend nach dem Museumsbesuch.
Am nächsten Morgen.
Nach einer Woche.
Die Fragen, die er sich stellte, veränderten sich. Er hatte das Auto aus dem Parkhaus geholt, er hatte vor dem Eingang gewartet, er war schließlich gefahren, weil sie nicht auftauchte.
Zunächst fragte er sich, warum er nicht länger gewartet hatte.
Später, warum er nicht nochmal zurück ins Museum gegangen war.
Dann, was sie zu ihm gesagt hatte.
Warum war sie nicht gekommen?
Die Fragen blieben.
Begleiteten ihn. Umkreisten ihn.

Das Rot des Fächers war schon lange verblichen.
Das Bild blieb auf dem Küchentisch liegen. Wie ein vergessener Einkaufszettel.
Er schaute daran vorbei.

Sonja war neu in der Firma. Er mochte ihre flotten Kommentare. Keine Scheu, dem Chef die Meinung zu sagen. Ohne zu verletzen. Bewundernswert. Und sie schien ihn zu mögen. Warum sonst tauchte sie regelmäßig an der Kaffeemaschine auf, wenn er sich gerade einen Cappuccino holte. Lachte, wenn sie beinahe mit ihm zusammenstieß.
Beim Betriebsausflug kamen sie sich näher. Erzählen konnte sie. Und zuhören mochte er. Schon immer.
Sie ließen sich Zeit. Gemeinsame Mittagspause. Verabredung zum Joggen. Als das Freibad im Mai aufmachte, gingen sie bei frostigen Temperaturen hin. Eisheilige eben. Zähneklappernd. Lachend. Zum Aufwärmen zu ihm. Ein Cappuccino am Küchentisch.
Er fasste sich ein Herz. Kino? Warum nicht. Sie hatte Zeit. Im Smartphone suchte er nach dem Programm. Obwohl er genau wusste, welchen Film er mit Sonja sehen wollte.
Beim Scrollen ließ er sie kurz aus den Augen.
Ich würde vorschlagen...
Er blickte hoch. Erstarrte.
Die verblichene Kopie auf dem Küchentisch. Sonjas Blick darauf geheftet, meilenweit von ihm entfernt
Die Augen ziehen mich...
Er griff nach dem Blatt, zerriss es und warf die Fetzen in den Abfalleimer.

© Angela Schmidt-Bernhardt


Eines Sommers
(Armenhausmädchen 1927 von Gretel Haas-Gerber)

Er war, wie man so schön sagt, mit einem goldenen Löffel im Mund geboren - ein Aristokrat. Er lebte, ohne sich dessen bewusst zu sein, auf der Sonnenseite des Lebens als einziges Kind seiner Eltern auf einem Landsitz mit Kindermädchen, Hauslehrer und jeder Menge Personal um sich herum.

Eines Tages, er war bereits ein junger Mann, unternahm er mit seinem eigenem Sportwagen eine kleine Spritztour.

Er hatte anhalten müssen, um nach dem Weg zu fragen. Er befand sich auf der anderen Seite der Stadt, die er nicht kannte.
Hier war alles anders. Die Menschen waren grob gekleidet, und schmutzig. Sie wirkten ausgemergelt vom Leben und von der schweren Arbeit.

Er fragte ein kleines Mädchen nach dem Weg. Es schien ihn nicht zu verstehen. Es staunte nur ihn und sein Automobil an. Der Mund stand ihm offen. Große Lücken zwischen den Zähnen waren zu sehen. Er musste seine Frage mehrmals wiederholen. Sie schien ihn einfach nicht zu verstehen.

Dann lief sie mit ihren dünnen Beinen ein Stück vorweg und zeigte ihm die Richtung zur Hauptstraße. Sie schaute dabei als könne sie nicht verstehen, wie jemand nicht wisse, wo es hier hinausgeht.
Da er immer noch nicht verstanden hatte, kam sie zurück und eh er sich‘s versah saß sie in seinem Wagen und zeigte ihm den Weg.
In der Zwischenzeit hatte sich eine Traube anderer neugieriger Kinder um den Wagen gebildet.

Er fuhr los. Trotz ihrer ärmlichen Erscheinung lachte das Mädchen die ganze Zeit. Sie schien auch überhaupt nicht ängstlich zu sein. Er fragte sie, wo sie wohnte. Sie sagte: „Na, da drüben im Armenhaus“. Als sie an der Hauptstraße angekommen waren, bedeutete sie ihm anzuhalten und stieg aus. So schnell sie gekommen war, war sie auch wieder verschwunden und er fuhr zurück nach Hause.

Durch eine falsche Abbiegung war ihm plötzlich klar geworden, dass seine Welt nicht die Welt war, in der alle lebten. Dieser kleine Vorfall hatte seine Sichtweise verändert. Und als sein Vater ihn einige Zeit später fragte, was er denn zu studieren gedenke, sagte er: „Malerei. Ich will die Menschen malen. Aber vorher will ich die Welt kennenlernen, in der sie leben. Ich will dahin reisen, wo ich noch nie war“.

Eines Sommers, als die Sonne sanft schien, griff er zum groben Gewand eines Schafhirten in der Montur eines faulen Eremiten und wanderte in die Welt, um von Wundern zu hören, und sah viele erstaunliche und besondere Dinge.

Es entstanden viele Bilder in dieser Zeit.
Doch trotz seines späteren Kunststudiums und aller ausgefeilten Techniken, die er dort gelernt und angewendet hatte, sollten diese Bilder immer seine schönsten bleiben, denn sie hatten die Natürlichkeit und die Unschuld und die Naivität eines Unwissenden.

© Doris Husslein


Na, du kleines Ding
(Armenhausmädchen 1927 von Gretel Haas-Gerber)

Na, du kleines Ding
sitzt da im Eingang
deine Schale ist leer
haste noch Hunger?
schaust arg mager aus
die werden dir nicht viel geben
im Armenhaus,
obwohl?
deine Kleider schauen ja ganz ordentlich aus
sind aber arg dünn
ist dir kalt?
guckst so traurig,
ein wenig verschüchtert
haste Angst?
du, kleines Ding

Warum sitzte da?
hammse dich rausgeschickt?
haste was angestellt?
warste frech?
nein, dass glaub ich nicht
du hast die anderen nicht mehr ausgehalten
fühlst dich allein, gell
ganz allein
keine Geschwister
keine Eltern
deshalb schauste so traurig drein
fürchtest'de dich
vor dem was kommt?
musste hart arbeiten?
wirste oft geschimpft?
darfst nicht einfach rumsitzen
nicht weinen, träumen, nachdenken
schlagen'se dich?
Ich hoffe nicht

Jetzt biste noch ein kleines Ding
aber, du wirst groß werden
schau, dass'de Kraft kriegst
und stark wirst
damit'de dich wehren kannst
und Deinen Weg gehen

 

(c) Margit Peip

 


Winterlesung 07.12.2018 - Texte zum Thema -                                

  "Ein Zimmer, das ich kaum kenne"


Schwäbische Nacht


Horst war mit Monika ins Schwäbische gefahren, in seinen Heimatort Pfullingen, um seiner verwitweten Mutter die Frau vorzustellen, die er zu ehelichen gedachte.
Monika war sehr gespannt auf die Schwaben, die ja bekannt sind für ihren Fleiß, ihre Sparsamkeit und ihre Gründlichkeit, aber auch für ihre Geselligkeit und Sangesfreude. Sie hoffte eher auf die letzteren Eigenschaften.
Denn die hatte sie an Horst beim Kennenlernen so anziehend gefunden.
Die Begrüßung zwischen den Frauen verlief unerwartet entspannt und die selbst geschabten Spätzle waren natürlich ein besonderes Willkommen.
Als Monika es auch mal mit dem Spätzle schaben probieren wollte und dabei nur fingerdicke Würste in den Topf fielen, sagte Hilde lachend:
„Des lernsch nemme, bleib liebr bei Grombiira“
Monika musste ebenfalls lachen und das Eis war gebrochen. Auch der erste Abend lief erstaunlich gut. Und das ist nicht selbstverständlich, wenn Mütter ihren einzigen Sohn hergeben müssen.
Nachdem Horsts Mutter alle peinlichen Begebenheiten aus seiner Kindheit- für ihn gefühlt zum hundertsten Mal- aufgetischt hatte, trollte er sich auffällig oft gähnend ins Bett, damit sich, wie er meinte, die beiden Frauen alleine beschnuppern konnten.
Den Rest des Abends wurden Familie, Kuchenrezepte und geeignete Diätprogramme abgearbeitet, die Sammeltassensammlung bewundert und die schon vorsorglich in hellblau und rosa gestrickten Mützchen für die künftigen Enkel für niedlich befunden. Auch der Streit mit dem Bruder, also Horsts Onkel, der mit Familie nebenan wohnte, war ausgiebig von der Schwiegermutter ausgebreitet worden.
Als dann die hochnotpeinliche Befragung über Monikas politische Gesinnung begann „Du hasch doch mit dene linke Spinner nix zom due?“ zog Monika die Notbremse, gähnte was das Zeug hielt und sagte nach einer unverfänglichen Anwort :
„Ich geh jetzt ins Bett, die Fahrt war anstrengend und ich will Horst nicht so lange warten lassen. “
„Falls de heut Nacht uff de Abbort musch, geh lieber hier unde, obbe is die Spülung so laud“ hatte ihr Hilde noch mit auf den Weg gegeben.
Horst schlief schon mit dem Lächeln eines Siegers auf dem Gesicht, wahrscheinlich weil er sich den Frauen so geschickt entzogen hatte.
Nun muss man wissen, dass meine Freundin Monika Schlafwandlerin ist.
Ihre nächtlichen Ausflüge durfte ich so manches Mal miterleben, wenn wir an gemeinsam verbrachten Wochenenden oder in Urlauben das Zimmer geteilt hatten.
In der Regel wurde ich von wischenden Geräuschen an der Zimmerwand entlang wach, wenn sie halb schlafend, halb wachend, auf der Flucht vor nächtlichen Schimären oder mit Druck auf der Blase, den Ausgang ins Irgendwo suchte.
Einmal konnte ich sie davon abhalten in meinen Schrank zu steigen, ein anderes Mal aus der Besenkammer wieder ins Bett umleiten.
Wenn man als Mitschläferin nicht wach geworden war, lag Monika morgens manchmal zusammen gerollt auf der Eckbank in der Küche oder auf dem Sofa im Wohnzimmer, weil sie nach erfolgter Blasenentleerung die erstbeste Liegestatt aufsuchte, die ihr in den Weg kam. Sogar der Badezimmerteppich hatte ihr schon als Nachtlager gedient.
Von ihren Ausflügen wusste sie in der Regel morgens nichts mehr und war selbst erstaunt wo sie aufwachte.
In dieser Nacht im Schwabenland hatte sie sich wieder einmal wie ein Geist neben Horst erhoben, denn nach dem Umtrunk mit Hilde, der durch einige Viertele entspannter gewesen war, drückte die Blase.
Offensichtlich waren ihr die letzten Worte ihrer künftigen Schwiegermutter vor dem Zubettgehen im Bewusstsein hängen geblieben, denn sie wandelte wie ferngesteuert aus dem Gästezimmer durchs Treppenhaus ins Erdgeschoss, wo sie die passende Tür suchte.
Das Haus der Schwiegermutter, war von deren Großeltern noch zu einer Zeit erbaut worden, als es normal war, dass eine Familie sechs bis acht Kinder hatte.
Als Horsts Eltern heirateten, baute man es um, sodass zwei Familien darin Platz finden konnten.
Nebenan wohnte besagte Onkelfamilie, mit der zurzeit Funkstille herrschte. Beide Haushalte waren durch eine Tür im Erdgeschoss miteinander verbunden, die mit einer Schrankimitation verkleidet war.
Diese Tür steuerte Monika nun mit schlafwandlerischer Sicherheit als vermeintliche Toilettentür an, schloss sie auf und landete im Flur und anschießend bedarfsrichtig sogar im Bad der Onkelfamilie.
Auf dem Rückweg durchwandelte sie das Wohnzimmer und sank dort, der weiten Wege müde, aufs Sofa. Sofort schlief sie wie ein Stein.
Jeder kann sich vorstellen, wie groß die Augen von Horsts Tante waren, als sie am nächsten Morgen eine wildfremde junge Frau in T-Shirt und Unterhose auf ihrem Sofa vorfand. Reflexartig zog sie ihr eine Wolldecke über die Beine, die über der Sofalehne hing.
Ihr erster Gedanke war, dass ihr Sohn Bernd die fremde Weiblichkeit von der gestrigen Fete mitgebracht haben könnte. Vielleicht war es dem Mädle  nicht mehr möglich gewesen in der Nacht noch nach Hause zu fahren. Und insgeheim hoffte sie, dass ihr Sohn vielleicht endlich eine Freundin gefunden haben könnte. Dass sie nicht bei Bernd im Bett lag, fand sie sehr anständig von ihrem Sohn, wunderte sie aber auch ein bisschen.
Als Bernd etwas später verschlafen die Treppe herunter kam, sperrte auch er die verquollenen Augen auf und nun standen Mutter und Sohn ratlos vor dem Sofa, denn der Sohnemann schwor Stein und Bein, dieses weibliche Wesen nie gesehen, geschweige denn gesprochen zu haben.
Beide überlegten, ob der Vater abends beim Stammtisch im „goldenen Böckle“ mal wieder ein paar Viertele Trollinger zu viel getrunken  und das „Weibsbild“, wie die Tante schnaubte, angeschleppt hatte.
Der Onkel, noch im Entgiftungsschlaf befindlich, wurde unbarmherzig von seiner Frau wach gerüttelt und als er verdattert alles leugnete ebenfalls ins Wohnzimmer zitiert.
Jetzt standen alle drei verwundert vor dem Sofa und starrten auf die noch immer fest schlafende Monika, wie auf ein seltenes, vom Aussterben bedrohtes Tier.
Schließlich stupste die Tante an Monikas Füße und als sie endlich aus ihrem steinigen Schlaf erwachte sah sie sich von drei Augenpaaren fixiert.
Als die Tante sie fragte, wer sie denn sei und was sie hier mache, antworte Monika, die schon immer sehr schlagfertig gewesen war, noch ziemlich schläfrig und mit lautem Gähnen: „Das gleiche könnte ich Euch auch fragen?“
Derweil wunderte sich Horst nebenan wo seine Liebste abgeblieben war und als er sie auch in der mütterlichen Küche nicht vorfand, hegte er den Verdacht, dass Hilde sie vielleicht vergrault haben könnte. Diese war sich jedoch keiner Schuld bewusst, hatten sie doch einen netten Abend zusammen verbracht. Kurzum, beide blickten ratlos auf das Gepäck und die Kleidung der Verschwundenen, denn ohne Klamotten konnte sie ja auch nirgendwohin gegangen sein.
Schließlich lösten sich alle Rätsel, denn kurze Zeit später klingelte es an der Tür und als Horst öffnete, stand sein Onkel vor ihm und sagte schmunzelnd: Breng deinem Mädle was zom Ozieha, noh könna mir frühschdügga.
Der Familienzwist war kein Thema mehr, als hätte man nur auf dieses Medium aus dem Hessenland gewartet und Horst und Hilde wurden ebenfalls zum Frühstück eingeladen.
Alle ließen sich Schinken Schwartenmagen und Rührei schmecken und schnell kam man über hessische und schwäbische Ess- und Lebensgewohnheiten ins Gespräch.
Monika beteuerte mehrfach, dass es im Hessenland wirklich nicht üblich sei, sich auf solche Weise der neuen Verwandtschaft vorzustellen.
Diese bis heute noch oft erzählte Geschichte fand so ihren Platz in der Schwäbischen Familienchronik und ist schon längst an Kinder und Enkel der Beiden weiter getragen worden.

 

© Hermine Geißler


Altbauwohnung

Ich wohne schon lange in meiner Wohnung. Sie ist geräumig, ein Altbau, sie hat Geschichte. Auf der einen Seite ist sie hell und sonnig, die andere Seite führt auf den Hof, wo es eher schattig und düster ist. Ich mag sie und auch wenn ich nicht immer glücklich mit ihr bin, so sind wir doch zusammengewachsen und sehen uns unsere Fehler nach. Ich verzeihe ihr, dass sie sich so schlecht aufwärmen lässt und sie nimmt mir nicht übel, wenn ich ihre Altehrwürdigkeit durch Errungenschaften wie moderne Lampen, eine Kücheninsel oder schrille Bilder an den Wänden einschränke.
Immer mal wieder hält sie Überraschungen für mich bereit. Plötzlich läuft rostiges Wasser aus der Leitung oder es zeigen sich Risse in der Stuckdecke. Zuletzt kam das häufiger vor. Ich habe repariert, gekleistert, gestrichen, die zugigen Stellen abgedichtet. Aber es ließ sich nicht übersehen, dass der Zahn der Zeit nagt und die Jahre ihren Tribut fordern. So fügte ich mich, gewöhnte mich an das gluckernde Geräusch aus dem Bad, die knackenden Decken und den größer werdenden Spalt unter der Tür.
Jetzt aber fühle ich, dass etwas geschehen ist. Diese Gemeinsamkeit, die Verbundenheit scheinen aufgekündigt. Plötzlich spüre ich, wir sind einander nicht mehr in alter Freundschaft zugetan, ich muss mich wehren gegen ihre Angriffe. Oder sind es freundschaftlich gemeinte Hinweise? Aber worauf?

Kürzlich benötigte ich zur Planung eines Geburtstages ein altes Fotoalbum, von dem ich nicht mehr wusste, wo ich es aufbewahrte. Auf der Suche ging ich alle Zimmer durch - vergeblich. Schließlich ließ ich mich ratlos in meinen Sessel fallen und überlegte, wo ich noch suchen sollte. Da fiel mir an der gegenüber liegenden Wand eine Art Rechteck auf, ein Riss in der Tapete, den ich bis dahin nie bemerkt hatte. Ich ging hinüber und untersuchte meine Entdeckung, klopfte dagegen und war erstaunt, wie hohl es klang. Also besorgte ich mir in der Küche ein Messer und schnitt entlang des Risses. Kurze Zeit später konnte ich eine Art Tür, eher eine Luke öffnen, die in einen Raum führte, von dem ich nicht gewusst hatte, dass er hier existiert.
Zu meiner grenzenlosen Überraschung lag dort das gesuchte Fotoalbum auf dem Boden. Ich kletterte in den Raum, der fremd und gleichzeitig vertraut war, wie eine schwache Erinnerung  aus eine längst vergangenen Zeit. Ich tauchte ein, fühlte mich seltsam leicht, jung, voller Tatendrang und Liebe. Was war das? Ich griff nach dem Album: Bilder von Menschen aus anderen Tagen, Weggefährten, Freundinnen, Orte des Glücks und der Tränen. Mein Leben. Die Zeit floss wie Honig und ich schwamm darin, ohne zu wissen wohin und wie lange schon. Da war er wieder, der Eine, der Wichtigste, wie lange waren wir uns nicht mehr begegnet? Wie vertraut mir die Bilder waren, sogar der Geruch stieg mir wieder in die Nase! Und der Schmerz über die Zurückweisung, das Wissen um die Einzigartigkeit dieser Liebe, die Trauer über ihren Verlust. Die Lähmung, die darauf folgte.
Plötzlich hörte ich ein knarzendes, schlurfendes Geräusch und sah auf. Es war schon dämmrig und das Zimmer wurde von Schatten durchzogen. Undeutlich sah ich die Luke, durch die ich hereingekommen war. War sie kleiner geworden? Spielte die Wohnung mir erneut einen Streich? Irrte ich mich oder sah die Luke nun aus wie ein zu einem hämischen Grinsen verzogener Mund? Sollte ich als Gefangene meiner Erinnerungen hier bleiben? Für immer jung?
Ich stürzte zur Luke und kletterte panisch zurück in mein Wohnzimmer. Schlagartig kamen die Jahre zurück.  Da stand mein Sessel und ich ließ mich schwer atmend hineinfallen. In meinem Alter bewegt man sich nicht mehr so geschmeidig, die Knie knackten von der ungewöhnlichen Bewegung und meine Schultern schmerzten. Die Luke verschwamm vor meinen Augen und die Wohnung knarzte und gab Geräusche von sich, die in meinen Ohren wie Hohn klangen. Oder wie ein Lachen.
Ich sitze seither öfter in dem Sessel und schaue auf die intakt erscheinende Wand, hinter der ferne Zeiten zuhause sind. Wehmütig höre ich die Geräusche der Wohnung, wie sie raunt, klopft, gurgelt und wispert. Wie es mir wohl ginge, wenn ich dort geblieben wäre?

© Catharine Kemeney


Vergessene Bibliothek
Text zu Bild (c) von Lori Nix, Library (Ausschnitt), 2007
Galerie Klüser, München

 

Ich stehe vor einem sehr altehrwürdigen, aber verlassenen Gebäude.
Es zieht mich magisch an.
Der Türgriff scheint lange nicht berührt worden zu sein. Ich drücke den Riegel. Der Türgriff lässt sich tatsächlich öffnen. Zögernd und doch voller Neugier schaue ich ins Innere.
Unmerklich halte ich die Luft an und vergesse für einen Moment zu atmen.
Was ich sehe ist nicht modrige Dunkelheit, sondern eine stattliche Bibliothek voller Licht und Farben. Alles scheint noch da zu sein. Jedes Buch steht noch an seinem Platz.
Doch traue ich meinen Augen nicht, denn große Bäume wachsen überall durch den Holzboden. An der Decke klafft ein riesiges Loch. Es scheint als hätten die Bäume ihren Rohstoff zurück erobert. Eine Meise betrachtet von einem Zweig aus friedlich die Bücherauswahl. Ich frage mich, was passiert sein mag. Warum wurde dieser geistige Schatz hier zurückgelassen und vergessen?

Auch ich habe früher Bücher regelrecht verschlungen. Ich liebte die Haptik eines ungelesenen Buches. Seine Jungfräulichkeit. Das Geräusch beim Umblättern der Seiten. Ein gutes Buch konnte nicht dick genug sein. Sogar der Einband und das äußere Erscheinungsbild waren wichtig. Ich konnte Stunden damit verbringen, in Enzyklopädien nachzuschlagen. Bildbände, Atlanten, Reiseführer und auch Kochbücher begeisterten mich.

Wann hörte das auf? Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal ein Buch in der Hand hatte oder eine Bibliothek besucht habe.
Heute beherrscht mein kleines Smartphone nicht nur meinen Bücherschatz, sondern enthält mehr als jede Bibliothek.

Ich nehme ein großes Buch mit dem Titel „Schöne neue Welt“ aus dem Regal. Die Blätter zerfallen zu Staub. Wir schreiben das Jahr 2044.

 

© Doris Husslein


„Es gibt ein Zimmer in meiner Wohnung, das ich kaum kannte….. Jetzt, da ich drin bin und auch nicht wieder heraus kann, versuche ich vergeblich, mich daran zu erinnern, an welcher Stelle in meiner Wohnung dies Zimmer sich befindet“.

Ich war wieder länger weg. Unterwegs. Und komme zurück. Zu diesem großen Haus. Es ist mir vertraut. Ich kenne es. Ich war schon oft dort. Ich glaube zum Schlafen, zum Pause machen. Viele Menschen wohnen dort. Sie sind dort kurze oder lange Zeit. Ich kenne die anderen nicht. Aber das spielt keine Rolle.
Ich weiß, eines der Zimmer im großen Haus ist meins. Dort kann ich schlafen, allein und ungestört sein. Und danach wieder gehen.
Und wieder passiert mir, was mir schon oft passiert ist. Ich finde mein Zimmer nicht. Ich weiß nicht wo es sich befindet.
Das Haus ist alt und groß und aus Holz. Es hat mehrere Stockwerke. Eine Art Ballustrade führt rings um das Haus, auf jeder Etage. Es gibt Zugänge von außen und innen und viele Treppen und Fenster. Es ist lichtdurchflutet. An Ecken stehen Bäume in Töpfen. Manchmal ein Stuhl oder eine Bank. Von dem äußeren Rundweg zweigen Zimmer ab oder kleine Flure, die wiederum zu Zimmern führen. Alle Zimmer haben Nummern.
Ich weiß meine Nummer nicht mehr. Ich finde auch den Schlüssel nicht. Ich habe keine Ahnung wo mein Zimmer ist. Ich kann mich einfach nicht erinnern.  Und es gibt keine Möglichkeit es zu erfragen. Obwohl hier viele Menschen sind. Sie werden mir nicht helfen können. Denn sie wissen nicht wo ich wohne. Meine Chance liegt darin zu suchen, alle Gänge abzulaufen und mein Zimmer dann vielleicht wiederzuerkennen und zu hoffen, dass es offensteht.
Manche Türen stehen offen. Ich kann hineinsehen und den Menschen bei ihrem Alltag zugucken.
Ich sollte systematisch versuchen mein Zimmer zu finden. Alles der Reihe nach abgehen. Aber irgendwie funktioniert das nicht. Ich habe keinen Überblick. Ich laufe durch Flure und Stockwerke und irre herum. Ich möchte endlich meinen Raum finden. Irgendwo muss er sein.
Und dann, später, stehe ich wirklich vor meinem Zimmer. Die Tür steht einen Spalt breit offen. Natürlich. Das ist es! Wie ich hingekommen bin? Keine Ahnung. Aber alles ist gut. Hier will ich jetzt sein. Ich betrete den Raum und schließe die Tür hinter mir. Ich möchte jetzt nicht nochmal raus. Sonst verliere ich den Raum vielleicht wieder. Ich bin so froh hier zu sein und bleiben zu können.
Es gibt ein Bett, ein Fenster, eine Kiste, einen Teppich. Nicht viel. Das Zimmer ist nicht sehr groß. Trotzdem ist es ein guter und freundlicher Ort. Und es gibt eine Tür zu einem weiteren Raum. Komisch. Diese Tür habe ich bisher noch nie bemerkt. Und den Nebenraum noch nie betreten. Warum nicht? Weiß ich nicht. Vielleicht erschien es mir nicht wichtig, nicht notwendig, nicht interessant.

Aber diesmal. Diesmal habe ich die Tür nicht übersehen. Diesmal werde ich die Tür öffnen und gucken, was im zweiten Raum ist. Warum eigentlich nicht? Aber wenn, dann jetzt gleich. Vielleicht ist der Funken Interesse nachher wieder weg.
Ich öffne die Tür. Und ich bin draußen. In einem Garten. Das kann nicht sein, denke ich. Völlig unlogisch. Hier kann es keinen Garten geben. Mein Zimmer ist nicht ebenerdig und umschlossen von anderen Räumen.
Aber es ist doch egal!
Hier ist ein Garten, ein wunderschöner, blühender, verwilderter Garten und Sonnenlicht und Menschen. Menschen, die ich schon immer kenne, die ich sehr mag, aber die ich vergessen hatte. Einfach komplett vergessen. Sie gucken und lächeln. Ich bin willkommen. Es gibt keine überschwänglichen Begrüßungen. Es ist alles einfach. Einfach und unkompliziert. Und vollkommen eigentlich.  
Ich  bin so erstaunt. Das hinter dieser Tür!? Warum? Hier habe ich so etwas am allerwenigsten erwartet. Ich hatte immer außen gesucht.


Und jetzt gehe ich da rein!

(c) Sonja Sommerfeldt


Der Schlüssel


Es war Freitagabend. Ich sah den vor mir stehenden Mann in seinem grauen Kittel zweifelnd an. Er war Mitarbeiter eines Schlüsseldienstes, der mir gerade einen Schlüssel angefertigt hatte. Dieser hatte jedoch am Bart eine verdächtig dünne Stelle. Auf meine Frage, ob der Bart eventuell abbrechen könne, hatte der nette Herr mir versichert, das könne nicht passieren. Dein Wort in Gottes Ohr, dachte ich und machte mich auf den Weg zu meinem Wohn- und Lebensraum. Ich wohnte in einem Zimmer unter dem Dach einer Altbauwohnung. Eine typische Studentenwohnung, wie es in Marburg viele gab. Klein, teuer und nicht schön. Ich war zwar kein Student sondern Berufsaufbauschüler, doch entsprach das Zimmer genau meinen finanziellen Möglichkeiten. Das BAföG, das ich bekam, reichte aus, das Zimmer und meine sonstigen Bedürfnisse zu finanzieren.
Den Schlüssel benötigte ich für meine Freundin, die ich seit Neuestem hatte. Es war was Ernstes, deshalb das Schließgerät. Es sollte ihr deutlich machen, wie wichtig sie mir war.
Als ich meine Dachwohnung erreicht hatte, ging ich hinein, schloss die Tür von innen, nahm den neuen Schlüssel, steckte ihn ins Schloss und drehte ihn herum. Er schloss … genau einmal. Ich hörte, wie die Zunge des Schlosses einrastete, zog den Schlüssel heraus und hatte ihn ohne Bart in der Hand. Dieser war im Schloss verblieben. Die Tür war verschlossen. Mein Zweifel bezüglich der Schließfähigkeit des Schlüssels war berechtigt gewesen. Der Bart war tatsächlich zu dünn gefeilt worden.
Na gut. Ich nahm den Originalschlüssel, um die Tür aufzuschließen. Es gelang nicht ihn in das Schlüsselloch zu stecken, der abgebrochene Bart blockierte das Schloss. Hätte ich mir denken können. Ich hatte mich selbst eingeschlossen, hatte mich zum Gefangenen in meinem eigenen Zimmer gemacht. Was nun?
Als Erstes kochte ich mir einen Kaffee und überdachte die Lage. Ich musste den abgebrochenen Bart aus dem Schlüsselloch entfernen. Nachdem ich meinen Kaffee getrunken hatte, machte ich mich mit optimistischem Schwung daran das Problem zu lösen. Es gelang mir aber weder mit einer Pinzette, einem Pfriem, einem Stück Draht und auch nicht mit einer Kuchengabel diesen verflixten Bart zu entfernen.
Mir stand der Schweiß auf der Stirn. Eine Mischung aus Angstschweiß und dem Schweiß der Anstrengung. Ich unterbrach meine Bemühungen, setzte mich auf den  überdimensionalen Fernsehstuhl, der den Großteil meines Zimmers beherrschte und dachte über das Problem nach. Doch mir fiel nichts ein.
Da hörte ich aus dem Nebenzimmer Stimmen. Mein Zimmernachbar hatte wohl Besuch. Schön, vielleicht war von hier Hilfe zu erwarten. Ich ging zu dem kleinen Fenster, das zum Dach hinausging, öffnete es und rief, etwas zaghaft allerdings: „Hilfe!“ 
Als sich nebenan nichts tat, rief ich etwas lauter: „Hilfe!“
Als sich immer noch nichts tat, rief ich mit sehr lauter Stimme: „Hilfe!“
Nebenan öffnete sich ein Fenster, ein Kopf erschien: „Was ist denn los?“
Ich erklärte die Sachlage. Der Kopf sagte: „Ich komme rüber.“
„Wie bitte?“ Das war ich.
„Ich komme rüber. Kleinen Moment nur.“
Ich sah wie sich eine Gestalt aus dem Nachbarfenster schwang, zwei, drei Schritte über den Teil des Dachs vor meinem Zimmer machte, um sich dann in mein Fenster zu schwingen.
Rudolf, mein Zimmernachbar, stellte sich vor. Wir hatten uns nämlich noch nicht kennengelernt. Er begutachtete das Problem, probierte mit meinen diversen Nichtwerkzeugen an dem Türschloss und kam abschließend zu dem Schluss, dass da nichts zu machen sei. Die einzige Idee, die er hatte, war die, dass man die Tür von außen öffnen könne. Was hieß, dass man sie von außen aufbrechen musste. Die Tür öffnete sich nach innen, somit war von der Außenseite ein optimaler Kräfteeinsatz möglich.
Für mich spitzte sich die Situation immer mehr zu, da ich nicht nur eine verschlossene Tür vor mir hatte, sondern auch noch einen wildfremdem Menschen. Nicht das mir Rudolf Angst eingeflößt hätte, doch ich, ein von Natur aus sensibler Mensch, fühlte mich insgesamt von der Situation überfordert. Ich stimmte also Rudolfs Idee zu.
Rudolf verschwand wieder mit akrobatischer Eleganz aus dem Fenster und hangelte sich über das Dach in seinen Wohnraum.
Wenig später hörte ich seine Stimme vor der Tür. „Wir wären so weit!“
„Dann los“, sagte ich.
Ich hörte einen lauten Schlag und ein knirschendes Knacken. Ein Teil der Türeinfassung flog mir entgegen, mit ihr stürzten Rudolf und zwei andere junge Männer in mein Zimmer. Mit lautem Hallo begrüßten mich Bernhardt und Wolfgang, begutachteten ebenfalls das Schloss und meinen abgebrochenen Schlüssel. Dann ließen mich die drei jungen Männer allein. Da stand ich nun mit meinem offenen Eingang.
Meine neue Freundin, die später zu Besuch kam, staunte nicht schlecht, als sie die aufgebrochene Tür sah. Ursprünglich hatte sie vorgehabt bei mir zu übernachten, doch war sie es gewohnt in einem geschlossenen Zimmer zu schlafen. So konnte sie nicht bei mir nächtigen. Sie bedauerte, mir dies mitteilen zu müssen.
Trotzdem haben wir vier Jahre später geheiratet.


© Rainer Güllich


Konstantin der Künstler      

Konstantin hatte nur noch eine Stunde Zeit.  Eine Stunde, um sich zu entspannen, bevor er seine Gäste empfangen musste. Er fühlte sich schon jetzt völlig überfordert. Was hatte er sich nur dabei gedacht. Aber nachdem letzte Woche eines seiner jüngsten Werke, ein Pop-Art-Bild, verkauft worden war und er somit plötzlich viel Geld besaß, hatte er diese Idee. - Sie wollen wissen, wie hoch der Erlös war?  Er wird es nicht verraten. -  Konstantin hatte nie Geld und war der Meinung, ohne den schnöden Mammon  im Leben zu recht zu kommen, deshalb wollte er es sofort wieder loswerden.

Weil ihm sein alter Mentor und Gönner immer in den Sommerzeiten diesen Etagengarten in Neapel für seine Aufenthalte zur Verfügung stellte, drängte es ihn, sich endlich seinen Traum zu erfüllen, hier ein Theaterfest nach Art der „Commedia dell’arte“ für einen Abend, eine Nacht, wieder auferstehen zu lassen. So lud er letzte Woche spontan all seine Freunde, viele Bekannte, die ihm häufig auf den Straßen Neapels begegneten, zu diesem Fest ein. Im Moment glaubte er, den Überblick, wie viele Personen in seinen Garten einfallen würden, verloren zu haben. Ihm wurde schwindlig, aber das konnte auch von der Sonne kommen, die ihm schon den ganzen Tag auf den Kopf brannte. Außerdem musste er dem betäubenden Duft der Glyzinien entfliehen.

Während diese Gedanken durch seinen Kopf geisterten, floh er auf  verschlungenen Wegen, vorbei an den in voller Blüte stehenden Hortensien, am Reich der Farne, der Kakteen und vorbei an vielen, vielen Rosensträuchern, in sein Lavendelparadies, in den hinteren Teil des Gartens. Hier konnte er dem Trubel und der Hektik, den die  Akteure, zuständig für die Dekoration, Buffet etcetera verbreiteten, entrinnen.

In seiner Hängematte, die ihm manchmal sein liebstes zu Hause war, machte er es sich bequem. Sein Blick richtete sich auf Kater „Paolo“, der am Teichrand saß, die darin schwimmenden Goldfische beobachtete und ab und zu  versuchte, eine der Fische zu greifen, was ihm selten gelang. Der Himmel über ihm war wolkenlos. Die absolute Ruhe und der Geruch des Lavendels versetzte Konstantin in einen nebulösen Dämmerzustand.  Er hörte eine Stimme die ihn rief: „Costantino, Costantino“. Merkwürdig dachte er, so rief ihn nur seine Mutter und sie hatte er nicht eingeladen.

Ach, vielleicht träume ich, dachte er und tauchte ein in die Bilder, die in ihm aufstiegen. Im Traum sah er zu, wie er langsam, aber noch benommen erwachte und fand sich in einen anderen Teil des Etagengartens , unter Palmen und einer haushohen chilenischen Schmucktanne, wieder.

Es war Nacht aber alles war beleuchtet. Wo war der Lavendel. Das war nicht sein Rückzugsort. Die Luft war gespeist von anderen, ihm unbekannten Düften. Der Blütenduft der Rosen und Glyzinien war verschwunden. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren hier nicht vorhanden. Auch den Wind und die Stimmen des Meeres vermisste er.

Konstantin versuchte vergeblich, sich daran zu erinnern, wo er sich  befand, und bemühte energisch, sich aus der Hängematte  herauszuschälen. Er ruderte mit seinen Armen und Beinen, aber er konnte sich nicht befreien. Seine Gefühle stritten sich, sollte er lachen, weinen oder wütend werden???
Würde er weinen, was bei Konstantin selten vorkam, dann eher darüber, dass er so verzweifelt in seiner Hängematte herumzappelte. Dann fand er es grotesk und musste über seine Situation lachen. Bestimmt würden gleich Freunde kommen, um ihn zu befreien.

Plötzlich war der Garten voller Zanni- und Amorosi-Theaterfiguren, die um ihn herumliefen, ihn aber nicht sahen. Er rief nach Dottore, nach Arlecchino, Pantolone. Laut lachend prosteten sie sich zu und gingen an ihm vorbei. Jetzt war er wütend. Vielleicht wollten sie ihm einen Streich spielen, aber dazu war er nicht in Stimmung.  Na, schöne Freunde habe ich, die werde ich morgen zum Teufel jagen, wenn ich sie treffe. Konstantin blieb in seinem Traum gefangen, er sah sich zu und konnte doch nicht mitspielen. Wenn er nur aus dieser Hängematte heraus käme, er fühlte sich eingesponnen wie in einem Kokon.
Drüben am Teich, der Kater war verschwunden, sah er Pulcinella liegen. Er rief nach ihr, sie antwortete jedoch nicht. Zeitweise war sie seine Muse. Letzte Woche hatte sie sich von ihm trennen wollen, was er auf keinen Fall zulassen würde. Er hatte eine Vermutung, wem sie sich zugewandt hatte. Sie ignorierte ihn, blieb liegen.
Dies war wirklich ein wirrer Traum ! Konstantin fühlte sich mittlerweile wie ein dicker Knoten, den man nicht entwirren kann. Er wollte raus aus der vermaledeiten Hängematte, raus aus diesem Teil des Gartens, den er nicht kannte.

© Ursula Engel