Der Zaun
Über Nacht war er plötzlich da gewesen. Der Zaun. Er reichte, soweit das Auge blicken konnte. Jonathan hatte sich seinen Bademantel übergeworfen und war zur Tür
hinausgestürzt, direkt auf ihn zu.
War massives Holz. Jonathan hämmerte mit der rechten Faust auf das Hindernis ein. Es dröhnte dumpf. Dicke feste Bohlen. Kurzfaseriges Buchenholz. Es roch wie in
einer Sägemühle. Angenehm. Frisch gesägtes Holz.
Der Zaun war mindesten drei Meter hoch, zwischen den einzelnen Brettern war nicht die kleinste Lücke.
Jonathan ging ein Stück an der Abzäunung entlang. Man konnte nicht hinübersehen und nicht hinüberklettern.
Warum auch hinübersteigen? Da war nur unbebautes ödes Land. Dürres Gras und einige Bäume, deren Holz wie altes Leder wirkte. Kaum Blätter an den Ästen. Ein
trostloser Anblick.
Trotzdem so abgeschnitten von der anderen Seite zu sein war schwer hinzunehmen. Ihn hatte vorher diese unwirtliche Gegend nicht interessiert. Jetzt war sie von
Interesse. Er hatte vorher nicht gewusst, dass es eine andere Seite gab. Erst der Zaun hatte sie dazu gemacht.
Hilflos drehte er sich herum und ging ins Haus.
Er machte sich eine Tasse Kaffee, setzte sich an seinen Küchentisch und starrte blicklos an die gegenüberliegende Wand. Sein Kaffee wurde kalt.
Jonathan rührte sich erst wieder, als die Dämmerung einsetzte und es immer dunkler in der Küche wurde. Er knipste das Licht an, goss sich ein Glas Bier ein und ging
ins Wohnzimmer. Hier schaltete er den Regionalsender im Radio ein. Vielleicht kam in den Nachrichten ein Bericht über den Zaun. Solch ein Ereignis war eine Nachricht wert. Doch es wurde nichts
darüber berichtet.
Pünktlich um dreiundzwanzig Uhr, wie jeden Abend, ging er zu Bett. Doch er fand keine Ruhe. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere. Gegen Morgen schlief er
ein.
Geweckt wurde er durch die wärmenden Strahlen der Sonne, die in sein Schlafzimmer schienen. Sofort fiel ihm der Zaun ein.
Noch im Schlafanzug rannte er aus dem Haus und blieb vor der Haustür wie erstarrt stehen. Der Zaun war noch da!
Erst da wurde ihm bewusst, dass er gehofft hatte, dass die Umzäunung verschwunden wäre. Als er sich umdrehte, um in seine Bleibe zurückzugehen durchzuckte ihn ein
gewaltiger Schreck. Auch hinter seinem Grundstück befand sich ein Zaun. Identisch mit dem vor dem Haus.
Ins tiefste Mark getroffen schlurfte er ins Haus zurück, machte sich wie hypnotisiert einen Teller mit Cornflakes zurecht. Essen musste er ja was. Doch rührte er
sein Essen nicht an.
Da hörte er ein Stampfen, Rütteln, Klappern, Schrillen, Tuten und Rasseln. Die Geräusche kamen von jenseits des Zaunes. Wie der Blitz war er wieder draußen. Der
Lärm, der von drüben kam, war ohrenbetäubend. Sehen konnte er jedoch nichts.
Das durfte so nicht weiter gehen.
Sich waschen, anziehen war in Sekundenschnelle erledigt. Jonathan ging in den Keller, rumorte dort in Kisten und Kästen herum, um dann triumphierend einen riesigen
altmodischen Handbohrer über seinem Kopf zu schwingen.
Er spannte den größten Bohrer, den er finden konnte, in das Bohrfutter ein. Der würde ein Loch bohren, das groß genug war, um einen Blick auf die andere Seite zu
werfen.
Den Handbohrer wie eine Hellebarde haltend stürzte er auf den Zaun zu. Er stach die Bohrerspitze so in das Holz ein, dass es dröhnte. Die Späne flogen, ruckzuck war
ein Loch gebohrt.
Jonathan warf den Handbohrer zur Seite und bückte sich schnell zum Loch hinunter. Vorsichtig schob er sein rechtes Auge vor das Bohrloch und fiel dann mit einem
‚Uurrgh‘ auf seinen Hintern. Die Überraschung war zu groß. Damit hatte er nicht gerechnet.
Hinter der Abzäunung war eine weitere Sperre! Er konnte nichts anderes sehen als den gleichen vermaledeiten Zaun, wie er ihn schon vor sich hatte.
Den Bohrer aufraffend rannte er zu der gegenüberliegenden Holzwand und bohrte dort ebenfalls ein Loch. Es überraschte ihn nun nicht mehr, dass sich auch dort hinter
dem Zaun ein weiterer befand.
Er zog sich in seine Wohnung zurück. Seine Schultern hingen herab, seine Schritte waren schleppend. Leise fiel die Tür hinter ihm zu.
Er legte sich in sein Bett und zog die Decke über den Kopf. Bis zum nächsten Mittag konnte er den Lärm hören. Dann herrschte Ruhe.
Er blieb im Bett, aß nicht, trank nur zwischendurch etwas Wasser aus dem Wasserhahn. Am dritten Tag, noch vor Morgengrauen, trat er aus dem Haus. Er hatte einen
Rucksack geschultert, trug festes Schuhwerk und einen Wanderstab in der Hand.
Den Weg genau in der Mitte der Zaungasse wählend ging er in Richtung Sonnenaufgang. Er kehrte nie zurück.
(c) Rainer Güllich
Dumm gelaufen
Tonio rückte sich sein Namensschild zurecht. Das Ding war schon wieder verrutscht. Zum Verrücktwerden. Vor einer Woche hatten sie diese Dinger bekommen und mussten
sie nun immer zum Dienst tragen. Na gut, so langsam würde er sich schon daran gewöhnen. Den Job hier hatte er nun schon seit circa zwei Jahren. Vorher war er einige Zeit arbeitslos gewesen. Keine
schöne Sache. Anfangs fand er das ja noch in Ordnung. Lange pennen, bisschen lesen, bisschen in die City, bisschen in der Eisdiele sitzen, bisschen ins Kino, bisschen, bisschen … Dann ging es ihm
irgendwann auf den Geist, das Geld wurde auch knapp. Freunde, mit denen er die Zeit verbringen konnte, hatte er auch nicht, Freundin schon mal gar nicht. Seit ihm Gaby den Laufpass gegeben hatte,
war in der Hinsicht nichts mehr gelaufen. Na ja, dann hatte es immerhin mit dem Job geklappt. Nichts Großes, beileibe nicht. Als Hilfs-Hausmeister war er hier zuständig für alle kleineren
Reparaturen. Die Sachbearbeiter, mit denen er dabei zu tun bekam, nahmen ihn kaum wahr. Er führte in der Verwaltungsbehörde im Lichtenholz ein ziemlich isoliertes Leben. Wenn nicht ab und zu der
Hausmeister mit ihm ein Schwätzchen unter Kollegen halten würde, wäre er sich wahrscheinlich schon unsichtbar vorgekommen.
Obwohl … heute wäre er gern unsichtbar. Na ja, die Sache würde schon funktionieren. Er hatte sich alles genau überlegt. Einfacher ging es überhaupt nicht. Er war
sowieso noch nie ein großer Planer gewesen, aber so, wie er sich das gedacht hatte, war es die beste Methode. Schnell rein und schnell raus, bevor jemand überhaupt raffte, was Sache
ist.
Er ging zum Fenster und schaute hinaus auf die kleine Bankfiliale direkt gegenüber. Die war ihm schon von Anfang an aufgefallen. Klein und fein. Nicht viel
Publikumsverkehr, nur zwei Angestellte am Schalter. Dass es so was überhaupt noch gab. Ein Relikt aus einer anderen Zeit.
Die Knarre hatte er noch aus seiner aktiven Zeit, aus der Ära mit Bruno und seiner Gang. Tja, Bruno, der saß ja immer noch ein. Er selbst war vor drei Jahren wegen
guter Führung vorzeitig entlassen worden. Sein Bewährungshelfer hatte ihm den Job hier besorgt. Hätte der sich nicht für ihn eingesetzt, säße er immer noch auf der Straße. Eigentlich wollte Tonio
tatsächlich den geraden Weg gehen und seine Vergangenheit endgültig hinter sich lassen, aber diese kleine Bank … die stach ihm schon ins Auge, sehr verlockend. Einmal ist keinmal.
Er hatte die Aktivitäten in der Sparkasse schon seit Längerem beobachtet. Dort arbeiteten zwei Angestellte. Ein Mann, eine Frau. Er, etwa fünfundvierzig Jahre alt,
schlank, sportlich, mit Chefgehabe. Sie, circa fünfundzwanzig Jahre, sehr gute Figur, schlanker Wuchs, etwas zu kleine Nase, die beflissene Bankangestellte. Mittagspause war offiziell um 12:30
Uhr, sie verließ die Filiale aber immer schon eine halbe Stunde früher, während der männliche Angestellte die Sparkasse Punkt halb eins schloss und sie dann verließ. Wieso die Tussi eine halbe
Stunde früher ging, konnte er nicht in Erfahrung bringen, war für sein Vorhaben aber auch absolut uninteressant. Er würde die Bank fünf Minuten vor der mittäglichen Schließung betreten und den
geplanten Überfall ausführen. Zu diesem Zeitpunkt betrat kein Kunde mehr die Sparkasse, das hatte er die letzten vier Wochen recherchieren können. Die Kunden wussten von den Schließungszeiten, es
schien, als wolle keiner mehr kurz vor Schluss, unnötigen Stress machen. Wie schön für ihn, dass die Angestellten ihre Kunden so gut erzogen hatten. Es würde also, außer ihm natürlich, nur noch
der Bankangestellte in der Sparkasse sein.
Tonio hatte sich das so gedacht: Vermummt rein, die Knarre dem Angestellten vorgehalten, Plastiktüte zuwerfen, alles freiliegende Papiergeld rein in die Tüte, dann
schnell raus. Zum Hintereingang des Verwaltungsgebäudes rein, Tüte im Keller in das Versteck, dem Behälter für das Winterstreusalz, dann schnell wieder auf seinen Arbeitsplatz. Niemand würde den
Bankräuber nur wenige hundert Meter entfernt vom Tatort vermuten. Wie er meinte, einfach und genial.
Er schaute auf seine Uhr. Es wurde Zeit. Er rückte seine Pistole, die er hinten im Gürtel trug, zurecht und überprüfte seine linke Jackentasche, in der er die
Sturmhaube deponiert hatte. Er öffnete seine Jacke etwas, damit er die Pistole besser aus dem Gürtel ziehen konnte.
Kurze Zeit später befand er sich in der Bankfiliale. Er hatte die Sturmhaube über Kopf und Gesicht gestülpt und bedrohte den Bankangestellten mit der gezogenen
Pistole. Dem gab er mit der Aufforderung, diese mit Geld zu füllen, die Plastiktüte in die Hand. Der raffte alle Geldbündel, die er erhaschen konnte, zusammen, stopfte sie in die Tüte, Tonio
entriss sie ihm und verschwand wie der Blitz aus der Bank. In Windeseile lief Tonio über die Straße, verschwand hinter dem Verwaltungsgebäude und war im nächsten Moment im Keller verschwunden.
Die Tüte mit dem Geld im Streusalzbehälter zu deponieren, war nur eine Frage von Sekunden. Hier ließ er auch seine Pistole und die Sturmhaube. Mit dem Fahrstuhl fuhr er in den dritten Stock und
war in wenigen Minuten wieder an seinem Arbeitsplatz, dem kleinen Werkraum vor dem Aktenarchiv. Hier schaute er noch kurz aus dem Fenster zur Sparkasse, um zu sehen, ob sich schon etwas tat. Dort
passierte aber nichts. Hätte ihn auch gewundert, denn die ganze Aktion hatte ja nicht länger als fünf Minuten gedauert. So schnell waren die Bullen nicht, obwohl die Polizeidienststelle nur
wenige Häuser entfernt war!
Er schnappte sich sein Werkzeug, das er sich vorher schon zurechtgelegt hatte, um den Wasserhahn in der Personaltoilette zu reparieren. Sein Herz raste, er atmete
heftig. Nur schnell zur Ruhe kommen, sich nichts anmerken lassen! Als er nach wenigen Minuten wieder einen ruhigen Puls hatte, verließ er den Raum, ging den Flur hinunter, um mit seiner Arbeit zu
beginnen.
Als er um die erste Ecke bog, wurden seine Schritte aber schon gestoppt. Vor ihm standen zwei uniformierte Polizeibeamte, beide mit gezogener Dienstwaffe. Der
größere Beamte sprach ihn an: „Ah, Tag, Herr Rummel, Sie suchen wir. Strecken Sie mal beide Hände nach vorne, damit ich Ihnen Handschellen anlegen kann. Sie haben doch gerade die Bankfiliale
gegenüber überfallen. Wenn Sie sich fragen, wieso wir das wissen und Ihren Namen kennen, will ich Sie aufklären. Herr Fister, der Angestellte der Bank, hat ihn uns genannt. Er konnte ihn deutlich
auf Ihrem Namensschild erkennen, dass Sie so schön ordentlich an Ihrer Jacke befestigt haben!“
Völlig verstört und verständnislos blickend, ließ Tonio sich abführen.
(c) Rainer Güllich
Österliches Intermezzo
„Eier anmalen. Da hab‘ ich keine Lust zu.“ Herr Schulz nahm den Seitenschneider für das Zuschneiden der Forsythienzweige und begann, sich seine Fingernägel
abzuknipsen.
Das war der Punkt, an dem ich nicht mehr weiter wusste. Die kleine Gruppe der vier älteren Langzeitpatienten erwies sich schon immer als schwer zu motivieren. In
meiner Funktion als Ergotherapeut bestand aber genau darin meine Aufgabe.
Dieses Mal hegte ich die Hoffnung, dass das Angebot, die Station österlich zu schmücken, auf ihre Zustimmung stoßen würde, da es ja um den eigenen Wohn- und
Lebensbereich ging. Meine Idee: ein gemeinsam gestalteter Osterstrauß.
Wie ich jetzt feststellte, handelte es sich meinerseits um reines Wunschdenken. Ja, ich liebe Ostern. Ich mag diese Feiertage, weil sie für mich den Inbegriff von
Frühling bedeuten. Ostern ist in meinem Empfinden mit Sonnenschein und Frühlingsduft verbunden. Es erinnert mich an den Duft blühender Frühlingsblumen und morgendliches Vogelgezwitscher. Ostern
lässt mich die Zunahme meiner Energie spüren und das Gefühl von Aufbruch und Erneuerung.
Dass ich diese Empfindungen gleichfalls den Patienten, von denen einige schon dreißig Jahre in der Psychiatrie verbracht hatten, wohlwollend unterstellte, war wohl
ziemlich naiv von mir.
„Wie ist es mit Ihnen? Haben Sie Lust, die Eier anzumalen, oder geht es Ihnen wie Herrn Schulz?“ Ich wandte mich den anderen zu.
Herr Kowalski, der nur polnisch sprach und seit einer Beinamputation im Rollstuhl saß, zeigte mir seine übliche Geste des Halsdurchschneidens. Er hatte also auch
keine Lust.
„Wann ist denn das nächste Mal Schule?“ Immer wenn Herr Brettschneider sich einer Situation in der Ergotherapie entziehen wollte, stellte er mir diese Frage. Also
auch mit „Nein“ abgehakt.
Blieb noch Herr Marquardt. Von ihm erwartete ich keine Antwort. In seiner Akte stand, dass er schon seit Jahren nicht eine Silbe gesprochen hatte. Er schloss sich
aber immer dem an, was die Gruppe tat.
Damit erwies sich mein hoffnungsvoller Plan also als erledigt. Schade, aber nicht zu ändern.
„Na gut, dann lassen wir es. Ich möchte und kann Sie zu nichts zwingen. Dann können Sie alle wieder zurück auf ihre Station gehen.“
„Auf die Station zurück? Das geht nicht.“ Herr Schulz schien sich zum Sprecher der Gruppe berufen zu fühlen. „Da werden wir wieder vom Stationspfleger angemistet.
Außerdem gibt es dann den ganzen Tag keine Zigaretten mehr.“
Ich wusste, dass den Rauchern als Sanktionsmaßnahme die Zigaretten vorenthalten wurden. Wie es schien, griff man zu diesem erprobten Mittel, um den Patienten den
Weg in die Ergotherapie zu „erleichtern“.
Das wurde hier ja jetzt sehr interessant!
„Wollen Sie damit sagen, dass Sie nur unter Druck in die Ergotherapie kommen? Ich nahm an, Sie würden aus freien Stücken zu mir kommen. Ich dachte, es macht Ihnen
Spaß, was wir so machen.“
„Nein, wir möchten lieber auf der Station bleiben. Aber Herr Hartmann hat gesagt, wenn wir nicht zu Ihnen gehen, bekommen wir Ärger mit ihm. Das wollen wir
nicht.“
Herr Hartmann – Stationspfleger und als streng bekannt! Für die Langzeitpatienten entsprach er in etwa dem, was Attila, der Hunnenkönig, für seine Untertanen
verkörperte.
Diese Information schockierte mich. Ich hatte tatsächlich angenommen, die kleine Patientengruppe erschiene aus Freude an den gemeinsamen Aktivitäten in der
Ergotherapie. Erst seit kurzer Zeit in der Psychiatrie tätig verfügte ich als Berufsanfänger noch über keine Erfahrung mit entsprechenden Institutionen und deren Maßnahmen im Umgang mit
Patienten. Es lag nicht in meiner Absicht, lange im psychiatrischen Bereich zu arbeiten, denn ich fühlte mich in diesem Umfeld nicht unbedingt wohl. Wie jetzt in dieser Situation: Ich fühlte mich
überfordert.
„Tja, dann sollte ich wohl mal mit Herrn Hartmann reden. Das geht nicht, dass er sie zwingt, bei mir mitzumachen.“
„Nein, nein! Bitte nicht! Wir kriegen nur Ärger. Wir machen lieber hier mit. Lieber malen wir die Ostereier an.“ Herr Schulz starrte mich entsetzt an.
„Gut, wie Sie wollen“, sagte ich. „Die anderen sind auch damit einverstanden?“
Waren sie. Ihr eifriges Nicken war Antwort genug. Dieser Kelch ging jedenfalls zunächst einmal an mir vorüber.
Ich gab jedem einige der ausgeblasenen Eier. Farben, Pinsel und Wachsmalstifte lagen schon auf dem Arbeitstisch.
„Übrigens: Ich hoffe, Sie mögen Rührei. Ich habe die Eier vorhin alle ausgeblasen und habe die Eiermasse auf ihrer Station abgegeben. Heute Abend wird es also
Omelette zum Abendbrot geben.“ Es bestand meinerseits die schwache Hoffnung, dass wenigstens diese Information ein wenig Freude aufkommen lassen würde.
„Gute Idee, gute Idee“, meinte Herr Brettschneider. Er klatschte in die Hände. Bei Herrn Schulz deutete sich ein Lächeln an, Herr Kowalski machte wieder das Zeichen
des Kehledurchschneidens und Herr Marquardt strahlte wie die Sonne an einem Wintermorgen. Wenigstens die bevorstehende Rührei-Orgie schien somit in Ordnung.
Sie malten alle fleißig vor sich hin. Das ein oder andere der dünnwandigen Eier ging dabei zwar zu Bruch, doch das hatte ich bei meinen Vorbereitungen einkalkuliert
und mich ausreichend mit dem Hühnerprodukt eingedeckt.
Einige der Eier wiesen von mir aufgebrachte Muster auf, die nur ausgemalt zu werden brauchten, was den Patienten die Angst vor der leeren Eierschale nehmen und die
Arbeit etwas erleichtern sollte.
Diese Mühe hätte ich mir im Vorfeld sparen können: Trotz meiner Hinweise bezüglich der vorgezeichneten Konturen wurden diese ignoriert und übermalt. Jeder suchte
sich eine Farbe aus und die Eier wurden mit dieser Farbe vollständig angemalt – basta. Herr Schulz tendierte zu Blau. Laut Statistik zählte er damit zu den 33% der Weltbevölkerung, die Blau als
Farbe bevorzugen. Das hatte ich zufällig im Internet gelesen. Ich gehöre übrigens auch dazu.
Herr Marquardt wählte Rot, eine Farbe, die mir durch ihre enorme Signalwirkung auch gut gefällt. Leider gingen unter seinen Händen die meisten Eier entzwei, sodass
später am Osterstrauß nur ein einziges rotes Ei hing.
Herr Brettschneider wollte seine Ostereier in der Naturfarbe belassen, stieß da aber meinerseits auf erheblichen Widerstand. Wir einigten uns darauf, dass er die
Eier mit einem Bleistift anmalen sollte. Es entstanden anthrazitfarbene Eier mit weißen Durchbrüchen.
Herr Kowalski (der Kehlendurchschneider) packte sich den erstbesten griffbereiten Wachsmalstift und malte seine Hühnereier damit an. Leider handelte es sich um
einen schwarzen Stift.
Als ich nach der Gruppenstunde dann den Forsythienstrauß, geschmückt mit den bemalten Eiern aufstellte, sah er etwas gewöhnungsbedürftig aus: Ein rotes, fünf blaue,
vier anthrazitfarbene (mit weißen Flecken) und sechs schwarze Ostereier schmückten den Strauß.
Unser so mühevoll entstandener Osterstrauß erregte viel Aufsehen. Sogar Pflegekräfte von anderen Stationen kamen, um das Wunderwerk zu bestaunen. Meine vier
Gruppenmitglieder und ich waren in der Klinik in aller Munde.
(c) Rainer Güllich
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