Der Corona-Winter

Eigentlich ging es mir gar nicht so schlecht. Ich saß im 23 Grad-wohlig-warmen Zimmer unter weißer Deckenkuscheligkeit in meinem kürzlich erworbenen roten Ledersessel mit zwei Motoren für Fußstütze und Lehne, die ich rauf und runter stellte, den Laptop oder ein Buch auf dem Schoß, und las und schrieb abwechselnd. Immer bis der Magen Geräusche von sich gab und mich die drei Schritte in die Küche trieb, wo ich dann ein Zwiegespräch mit dem Kühlschrank begann, das öfter mit einem Seufzer in ratloses Schweigen mündete und mich die Gefriertruhe öffnen ließ. Da gab es noch ein paar Tiefkühlerbsen und eine Plastiktüte mit der Aufschrift „Hühnerbrust“ neben seit zwei Jahren vor sich hin frierenden Soßenresten von Vor-Corona-Gelagen. Ob man die noch essen konnte?


Zu Anfang des Jahres 2020, als alles begann, hatte ich gerade - nach sorgfältigem Aussortieren anderer Rentnerbeschäftigungsmaßnahmen wie Ranger werden, Käse herstellen oder in einer Bäckerei jobben - mit dem Schreiben angefangen. Ich hatte einen Kurs besucht und las begierig alles, was mir in die Finger fiel, darüber, wie man es tun sollte, beklebte die Küchenschränke über und über mit kleinen quadratischen Spickzetteln mit inspirierenden Sprüchen wie Der Notierer sieht plötzlich etwas schwarz auf weiß (Ortheil) und begann mit eigenen kleinen Geschichten, die ich zuerst selbstgefällig schnell herunterschrieb, aber bald schon, in Erkenntnis meiner Unfähigkeit, immer wieder neu korrigierte und komponierte, ohne mich jemals der Illusion hingegeben zu haben, das sei’s jetzt. Aber das war wohl normal.


Der von mir angebetete Murakami schrieb, er würde alles 10-20-mal überarbeiten. Also war ich in bester Gesellschaft. Ich fühlte mich sehr angeregt. Gut unterhalten. Vor mich hin lächelnd suchte ich nach immer treffenderen Worten. Versuchte zu zeigen statt zu erzählen. Darauf käme es an, las ich. Fast kam ich mir kreativ vor. - Nein, in Wirklichkeit war ich weit davon entfernt. Ich fühlte mich eher wie eine, die wie früher als Kind wie schokoladensatt zufrieden schmatzte, wenn sie merkte, dass ihr kleiner Bruder weinte und sich gruselte, wenn sie ihm eine Geschichte erzählt hatte.


Mein Zeitmaschinen-/Beamer-Sessel schickte mich in eine andere Zeit und an einen anderen Ort so wie in einem alten Science-Fiction-Film Mr. Spok, der mit den spitzen Ohren, wenn ich mich recht erinnere.


Meine Augen klappten sich langsam nach innen, wo Brodeln, Rumoren und Flattern herrschten. Manchmal war ich so weit weg in Sahara-Sandsturm-Tiefen, bei dattelessenden und teetrinkenden Nomaden oder bei pferde-hufigen Geistern der afrikanischen Savanne, Heimsucher in verlassenen Häusern, dass ich die Grausuppe hinter den regennassen Fensterscheiben meines Wohnzimmers gar nicht mehr wahrnahm.


So kam es, dass ich zu 95 % den langen dunklen Winter woanders verbrachte. In einer Welt aus Geschichten. Voller Geschichten. Die Luft schwirrte förmlich davon wie von einem Vogelschwarm. Sogar nachts träumte ich Geschichten. Morgens wachte ich früh auf, weil die Geschichten mich unruhig machten. Es gab einfach zu viel Gewusel im Kopf, um im Bett bleiben zu können. Ich musste sie sofort aufschreiben, wenigstens Notizen machen, sonst könnten sie abdriften in die Unendlichkeit des Weltalls, wo ich sie so schlecht wiederfinden würde.


Corona war für mich also DIE Gelegenheit für den Einstieg in eine neue Welt. Ich brauchte gar nicht „diszipliniert“ zu sein wie Thomas Mann oder so. Es kam natürlich, von allein. Es fand mich.


Wenn ich denn überhaupt meinen Blick einmal aus den lockenden und verwirrenden Untiefen rein physisch nach draußen lenkte, blieb er an den Knallrotbeerenbüschen einen Meter vor meinem Fenster hängen. Die Beeren schickten meinen Blick schnell wieder rein und ich las oder schrieb weiter. Gegen Ende des Winters hatten die Vögel alle aufgefressen, ich hatte sie in den Schnäbeln der Amseln verschwinden sehen. Sie knackten sie wie Nüsse, wenn sie gefroren waren.

 

Aber da wurde es auch schon heller.

 

So war es die meiste Zeit.


Dann gab es noch die übrige Zeit. Da überkam mich die schiere Verzweiflung. Dunkelschwarzbraune. Sie stieg unvorhersehbar felsbrockig in mir hoch. Ich fühlte mich vom Grau umzingelt, im Gefängnis des Winters erstickt.


Der Supermarkt als große Abwechslung. Vielleicht etwas kaufen, was ich sonst nicht kaufte. Eine kleine Schachtel Wachteleier, die ich sonst nie gesehen hatte. Vanillepuddingpulver, weil mir nach Süßem war.


Oder einmal einen Zahnarzttermin. Statt zitternd gefürchtet, nun freudig erwartet.


Eine Apotheke, einen dm, falls endlich mal etwas ausging.


Die ewig gleichen kahlen nassen Wälder und Felder mit matschigen Wegen.


Manchmal wurde ich dann aggressiv. Gegenüber der unschuldigen Person, die zur Verfügung stand, einfach nur weil sie mit mir gerade die Matschwege entlang spazierte. Ich sagte ihr mal richtig die Meinung. Sowas wie, dass mir der Dannenröder Forst gerade schnurzpiepegal sei, ich sei noch nie da gewesen. Ich wisse nicht mal, wo der liege. Danach betretenes Schweigen hinter der Maske des Mitläufers.


Einen Tag später meine halbherzige Entschuldigung. Gespieltes Verständnis. „Ja, wir sind alle genervt…“


Aus Angst vor sozialer Ächtung im Falle von zu zahlreichen Aggressionsanfällen der Versuch, alternativ die Augen zu schließen und mich am mauretanischen Strand zu sehen wie drei Jahre zuvor, durch den Sand am Meer entlang gehend. Weder Grauschwarzbraun noch Schnee vor mir, nur Meer und Weite und gleißendes Licht. Das Geräusch der Wellen. Die Sonnenhitze auf der Haut. Die bunten Fischerboote weit draußen auf den Wellen tanzend. Das Gefühl sich zurückziehenden Wassers unter den Füßen. Ein angespülter noch feucht glitzernder Quallen-Riesendiamant. Zugvogelschwärme.

Das träge Dahinplätschern eines Gespräches über Fische, die man zu Abend essen könnte. Grillen würde.


Die Fahrt danach zum Hafen, um träge aus Tausenden von Fischen die richtigen, die schmackhaftesten auszuwählen. Die schillernden Schuppen von einem Jungen mit einem scharfen Messer für eine Münze abschaben zu lassen…


Der nächste Winter?


Ich weiß nicht, was im nächsten Winter sein wird. Corona hat Unordnung in meinen Kopf gebracht. Das ist in meinen Augen ein gutes Ergebnis. Perspektiven, Gedanken, Gefühle verwirbelt. Etwas Verwirbeltes kann man neu ordnen, neugestalten. Dabei kommt etwas Aufregendes heraus. Da bin ich mir sicher. Etwas Schlechtes bringt auch immer Gutes mit sich.


Meine Nachbarin sagt:


Corona hin, Corona her, gelb ist der Ginster, blau das Meer.


Meine Mutter sagte:


Wenn Du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.


Und ich?


Corona, Du Pest, Du hast genug gewütet, ich will jetzt keine Ruhe mehr. Alles ist verwirbelt. Nun lass uns wie Phönix aus der Asche auferstehen! Die Toten und die Künstler! Ach ja, und die Gastronomen! Weil ich nicht mehr kochen will.


Am besten uns alle. Auf dass nur Gutes wachse aus der Asche!

(c) Marion Fischer


Der Weg


Seit etwa zwei Stunden war ich nun im Museum. Ich wohnte zurzeit in Frankfurt und ging gern samstagmorgens am Mainufer in eine der Ausstellungen. Manchmal war ich dort ganz allein, manchmal gab es einen alten Mann, der mich kurz anschaute, nickte und dann weiter die Bilder betrachtete. In der Stille des Morgens dort herum zu schlendern mochte ich sehr. Es war eine gute Stille, eine zum ruhigen und konzentrierten Verweilen.


Ich setzte mich auf eine der mit rotem Kunstleder bezogenen Bänke ohne Lehne und stützte mich mit den Händen hinter mir auf der Bank ab. Etwas müde vom langsamen Herumgehen streckte ich die Beine vor mir aus und ließ meinen Blick durch den großen Raum schweifen. Er war hell und weit und das Licht klar und sanft, ohne direkt zu sein.


Da fiel mein Blick auf ein mittelgroßes Bild vor mir. Ich saß gerade nah genug, um die Einzelheiten darauf erkennen zu können. Als erstes fielen mir die Bäume auf. Bäume sind mir sehr wichtig. Diese hatten große fächerartige Arme, die mir zuzuwinken schienen. Verschiedene Blau- und Grüntöne. Ein Weg, der aus dem besiedelten Tal heraufführte und zwei Paare, ein junges, umschlungen den Weg hinaufsteigend und ein mit Abstand zueinander sitzendes älteres Paar am Ende des Weges nachdenklich auf einer Bank.


Das Bild zog mich stark an, fast fühlte ich mich hineingezogen. Ich stand auf und ging näher heran.


Plötzlich sah ich meine Geschichte vor mir. Ich kehrte zu meiner Bank zurück, setzte mich wieder hin und ließ mich von meinen Gedanken davontragen.


Die Geschichte zog sich lang durch mein Leben.


Zum ersten Mal sah ich ihn im Studentenwohnheim, als ich aus meinem Zimmer im Erdgeschoß trat. Er ging über den Flur, zog einen gelben Rollkoffer hinter sich her und seine blauschwarzen mittellangen Haare wippten um seinen Kopf. Er ging schnellen Schrittes und sah vor sich hin. Das Bild ist mir bis heute deutlich vor Augen. Ich ging zu meiner Zimmernachbarin und besten Freundin und erzählte ihr klopfenden Herzens, was passiert war. „Suse, ich habe mich gerade unsterblich verliebt“ sagte ich zu ihr. Suse lachte, sie lachte oft. Sie kam aus Polen, war schon 23, lebenserfahren und ohne Familie in Deutschland. Ich war erst 19. Sie erklärte mir, die ich gerade erst aus einer kleinen Stadt im Sauerland zum Studium nach Marburg gekommen war, wie das Leben so läuft. „Na, dann wollen wir ihn mal einladen“ meinte sie einfach nur.


Sie fand heraus, wer er war, lud uns zusammen ein und wir wurden tatsächlich ein Liebespaar. Alles war aufregend. Er kam aus Japan, war für ein Auslandsjahr in Marburg und studierte Germanistik und Wirtschaftswissenschaften. Er faltete 1000 Kraniche aus buntem Papier für mich und schenkte mir kleine bunte Seidentäschchen mit glänzenden schwarzen Kordeln und lackierten Kugeln daran.


Er wollte in einer großen internationalen Firma arbeiten. Sein Deutsch war ausgezeichnet. Er war schüchtern, aber er wusste sehr genau, was er wollte. Er wollte schnellstmöglich sein Studium in Tokio zu Ende bringen und dann nach Deutschland kommen, hier arbeiten und mich heiraten. Er war ganz anders als die Jungs, die sonst so meine Wege kreuzten. Ich fand ihn sehr schön und ließ mich mitreißen von seinen Plänen, obwohl ich gerade erst meinem Elternhaus entkommen war und die Welt entdecken wollte. Wahrscheinlich dachte ich, er sei die Welt... Er lud mich nach einem langen Jahr des Sehnens und ständigen Briefeschreibens und Kassetten-Austauschens nach Japan ein. Meine Mutter weinte und meinte, ich würde nie wieder kommen. Damals flog niemand, den man kannte, um die halbe Welt nach Japan.


Ich dagegen brach ohne Bedenken freudig erregt auf. Im Jahr zuvor war ich schließlich schon zu einem Workcamp in Kenia gewesen. Ich fand mich ganz schön weltmännisch… (wieso eigentlich weltMÄNNISCH?)


Bei der Ankunft in Tokio ließ ich vor Aufregung erst einmal die Flasche Wein fallen, die ich seinen Eltern schenken wollte. Sie zerbrach auf dem Fußboden des Flughafens.


Japan war wie ein anderer Planet für mich. Die erste Woche - er hatte Urlaub genommen - verbrachten wir gemeinsam in seiner Heimat Ise, wo Frauen seit 2000 Jahren tief in der See in weiße Gewänder gehüllt nach Perlen tauchen. Ich wurde seinen Eltern und der Großmutter vorgestellt. Sie waren sehr höflich. Einmal musste ich deutsches Essen kochen und danach Walzer tanzen. Die Eltern überreichten mir als Gegengeschenk für meine Mitbringsel eine lange Kette mit schimmernden Perlen. Danach blieb ich noch weitere sechs Wochen mit meinem Freund in Tokio. Er musste wieder arbeiten.


Mit vor Staunen offenem Mund ging ich allein durch die Stadt.  Alles war komplett anders. Überall Handwerker, Stoffgeschäfte und hunderte von kleinen Lebensmittelgeschäften. Stumm und lächelnd ging ich immer weiter, zeichnete jede Abzweigung, die ich nahm, auf ein Stück Papier, um zurück zu finden. Es war nicht möglich, nach dem Weg zu fragen. Wenn ich versuchte, Englisch zu sprechen, liefen die Leute erschrocken weg. Lesen konnte ich auch nichts. Alles war 1977 noch mit japanischen Zeichen geschrieben. In dem Viertel, in dem wir wohnten, habe ich nie einen anderen Ausländer gesehen.


Abends kam mein Freund müde nach Hause. Er wollte nicht mehr viel sprechen. Er war schon in seiner internationalen Firma tätig, es war sehr anstrengend für ihn dort. Er musste zeigen, dass er ein loyaler und fleißiger Mitarbeiter war, der alles für seine Firma tun würde. Dann würde man ihn nach Deutschland schicken.


Ich lernte meistens für meine Zwischenprüfung in Geografie. Am Wochenende machten wir Ausflüge. Ich erinnere mich an Kamakura, Yokohama und Nikko. An Tempel, Buddha-Statuen, schwüle Hitze, das Totenfest Obon, das laute Zirpen von Grillen in den Tempelgärten. An kleine Häuser mit papierenen Wänden und mit Glöckchen vor der Eingangstür, die bei jedem Windhauch leise klangen.


Das japanische und chinesische Essen fand ich wunderbar, aber manchmal hatte ich Hunger. Ich war sehr schlank zu der Zeit, aber trotzdem reichten die japanischen Essensportionen nicht immer aus, mich satt zu machen. Er lachte darüber und sagte, eine Frau müsse schlank bleiben.


Die Welt wurde kleiner. Ich sah mich als Hausfrau, als Ehefrau mit einem erschöpften Mann an meiner Seite das Leben führen, dem ich gerade entronnen war. Damals hätte ich das so gar nicht formulieren können. Es war eher ein diffuses Gefühl von verschwindenden Möglichkeiten und sich vertiefendem Ernst.


Er sprach über seine Pläne. Dass er bald nach Deutschland kommen würde.


Was er tat, er setzte immer um, was er plante.


Aber ich hatte mich innerlich von ihm gelöst, ich hatte Angst vor der vorbestimmten Zukunft und ich hatte jemand anderen. Der etwas weniger ehrgeizig war, der Musik hörte, die mich begeisterte, mich wieder zum Lesen brachte, mit mir kochte, lachte und feierte…


Es tat mir leid für den Japaner. Er war sehr enttäuscht. Meinetwegen war er nach Deutschland und sogar nach Marburg gekommen und nun wollte ich nicht mehr. Ich fühlte mich schlecht deswegen. Und ich mochte ihn immer noch. Ich besuchte ihn oft. Zusammen suchten wir eine japanische Frau für ihn aus einem Katalog aus, den seine Mutter schickte.


Als seine Frau zur Geburt des ersten Kindes im Krankenhaus lag, gab er mir die Fotos unserer gemeinsamen Zeit zurück. Er machte Karriere. Sie spielte Klavier, erzog die Kinder und führte den Haushalt.


Ich ging meine verzweigten Wege. Die Welt blieb groß. Das Leben mal mehr, mal weniger gut.


Schließlich, nach 30 Jahren, ich war allein in Kairo, suchte ich ihn eines Tages im Internet und fand ihn in Wuppertal als Geschäftsführer der Firma, bei der er angefangen hatte. Ich kontaktierte ihn, er war überrascht, freute sich aber und wir verabredeten uns für meinen nächsten Urlaub in Deutschland.


Als wir uns sahen, begann sofort alles von vorn. Ich fühlte mich wieder wie mit 20. War fasziniert. Wie 30 Jahre zuvor. Ihm schien es genauso zu gehen. Seine Frau war in Japan, seine Kinder erwachsen.


Aber er hatte sich gerade, zum Abschluss seiner beruflichen Laufbahn, auf eine noch bessere Position in Tokio beworben. Wie damals wusste er immer noch, was er wollte. Und was sich gehörte.


Nach ein paar Monaten, in denen wir uns so oft wie möglich sahen, ging er weg, nach Japan.


Später gab es noch ein paar Versuche, wieder zusammen zu kommen. Aber es endete jedes Mal schmerzlich.


Ich sah noch einmal auf das Bild, ein Gefühl wie ein dicker Stein lag mir auf der Brust. Schwerfällig stand ich auf und verließ das Museum. Draußen schien die Sonne und inzwischen waren mehr Leute unterwegs. Ich atmete tief durch, blinzelte im grellen Licht und ging meiner Wege.

(c) Marion Fischer


Die Aufgabe

Ich bin seit Neuestem in einer Schreibgruppe und bekomme jeden Monat eine Aufgabe. Diesen Monat soll ich zu folgendem schreiben: "Eines Tages sprech ich im Rundfunk gegen Morgen, wenn niemand mehr zuhört, meine gewissen Rezepte"


Wenn ich das Wort „Rezepte“ höre, fallen mir tausend Sachen ein. Ich koche gern. Ich denke an Muschelsuppe, Entenbrust, Wirsingauflauf, Süßkartoffelpüree, jamaikanisches Hähnchen und Mandelpudding. Oder auch an Ratgeber, mit „Rezepten“ für ein gutes Leben oder für den Umgang mit schwierigen Menschen…oder für Faltencreme… -Um ehrlich zu sein, an langweilige Rezepte für Faltencreme habe ich noch nie gedacht, sie werden hier lediglich der Vollständigkeit halber aufgezählt…Wobei ich natürlich immer noch weit entfernt bin von Vollständigkeit.


Margarete, eine Freundin, der ich von der Aufgabe erzählte, hatte die Idee, es könne etwas für Bäcker sein, die gerade aufstehen. Oder für Barkeeper, die gerade ins Bett gehen…daran hatte ich gar nicht gedacht…


Da es gegen Morgen ist und nicht mehr viele Hörer am Radio sitzen, könnte ich auch vertraulich werden und ein paar Nicht-Schlafenden oder auch Schlaflosen - wie ich des Öfteren ebenfalls eine bin - kann man einiges zumuten, sie wären vielleicht sogar noch dankbar… und immerhin ist nicht alles, was mir Vertrauliches einfällt, eine Zumutung.


Vielleicht soll ich mit einem mir gerade nahe liegenden Rezept beginnen?


Ein Rezept für frühes Aufwachen am Samstagmorgen


Seit ich älter werde, sagen wir seit dem 60. Lebensjahr, habe ich das, was man gemeinhin Schlafstörungen nennt. Nicht, dass ich stark darunter leiden würde. Nein. Seitdem ich in Rente bin, muss ich mich nicht mehr um 6 Uhr morgens aus dem Bett quälen, um dann bis 18 Uhr abends zu funktionieren. Es verlangt mir aber schon ab, darüber nachzudenken, wie ich damit umgehe und mich nicht nur abfinde mit dieser Absonderlichkeit, sondern es zu einem Teil eines angenehmen und vielleicht sogar anregenden Rentnerlebens mache.


Heute zum Beispiel bin ich um 4.40 Uhr aufgewacht. Super, beauftragte ich mich zu denken. Um 6 springt schon die Heizung auf Tagestemperatur, nicht lange hin bis 6! Dann tastete ich erst mal auf dem Teppich neben meinem Bett herum und fischte nach dem Handy. Vielleicht hatte sich schon von irgendwo auf der Welt jemand gemeldet…Richtig, Jürgen aus Äthiopien war ebenfalls schon wach. Nun, ich glaube, dort sind es zwei Stunden später, oder? Trotzdem war er früh dran für einen Samstagmorgen! Hatte wohl auch langsam senile Bettflucht…Er hatte meine Nachricht vom Vorabend, dass ein gemeinsamer Bekannter, Moussa aus dem Tschad, in Nairobi gestorben sei, gelesen. Er hatte das sogar schon vorher von einem anderen gemeinsamen Freund aus Madagaskar gehört. Sogar woran. An Corona. Er fragte, ob ich Kontakt zu der Exfrau des Verstorbenen habe. Ich erwiderte, ja, von ihr wisse ich es. Wie es ihr gehe? Ich schrieb, sie sei mit allen Kindern in der Schweiz. Für die Kinder sei es schlimm. Sie hatten ihn zum letzten Mal vor zwei Jahren gesehen, als sie mit ihm in die Wüste gefahren waren. Ins Ennedi, das ist so ziemlich am Ende der Welt, von der Hauptstadt N´Djamena gut 3 Tagesreisen entfernt, ein Teil davon auch im Dunkeln mit Orientierung an den Sternen. Diese Reise wollte ich unbedingt mit Moussa unternehmen, sobald Corona überstanden wäre. Nun war es zu spät. Ob sein ältester Sohn, der das Reiseunternehmen übernehmen sollte, sich schon an den Sternen orientieren könnte? Wohl kaum…Wahrscheinlich würde er irgendeine moderne Technik einsetzen. GPS oder so.


Dann machte es ping und eine Mail kam herein, aus Japan. Da war es schon Mittag. Eine Mail von Hiroko, eine Freundin aus der Zeit im Niger 1985/86. Eigentlich wollte sie im Sommer 2020 nach Deutschland kommen und mich besuchen. Sie hatte zwar starke Zweifel, dass das deutsche Essen genießbar wäre, aber ich hatte sie schließlich überzeugen können. Ich hatte ihr schon einen Vorschlag für eine Rundreise geschickt. All ihre Vorstellungen von Alter Pinakothek in München und Konzert in der Elbphilharmonie eingebaut. Sie ist zwar eine relativ untypische Japanerin, sozusagen eine afrikanische, weiß aber dennoch, was ein Sightseeing-„Muss“ in Deutschland ist …


Wir jammerten eine Weile über Corona hin und her, bis sie meinte, sie sei im Homeoffice und müsse jetzt weiter machen.


Danach fühlte ich mich mit der Welt verbunden, es war 6 Uhr und ich stand auf. Es war noch stockfinster draußen. Ich machte mir Frühstück. Wenn es so früh ist, lieber Kaffee als Tee und zwei Brote mit viel Marillenmarmelade. Machte ein sanftes Licht an und eine Kerze. Eine gelbe passend zu meinen ersten im Grunde viel zu früh gekauften Tulpen. Aber gelb strahlt mich an. Das mag ich. Vor allem, wenn die Sonne sich gerade überhaupt nicht blicken lässt.


Um diese Uhrzeit wird in hr2 klassische Musik gesendet. Ich erkenne fast nichts. Ich bin ein richtiger Klassikbanause. Klassik ist für mich Untermalung von etwas. In diesem Fall leise Klavier - Untermalung meiner Marillenmarmeladen-Brote.


Nach einem solch frühen Frühstück habe ich immer das Gefühl, mir sänke das Blut in den Magen und mein Kopf wäre schwer und dumpf. – Ich beschloss also, mich in meinen bequemen roten Lesesessel zu begeben und dem Tage entgegen zu dösen. Dabei hilft mir die Spülmaschine mit ihrem eintönigen shushu shushu. Ich liebe dieses Geräusch. Viel besser als die Waschmaschine, die Rhythmen wechselt und am Ende auch noch wild schleudert und schließlich aufdringlich piepst, wenn sie fertig ist. Wie indiskret. Vielleicht sollte ich mir eine neue, leise anschaffen. Meine ist schon uralt.


Ich liege also unter meiner flauschigen Decke im Sessel, die Augen halb geschlossen auf das heraufziehende Tageslicht vor dem Fenster gerichtet und freue mich, dass ich schon wach bin und vor meinem selbst auferlegtem strukturiertem Rentnerprogramm Freizeit habe.


Draußen, hinter dem Wohnzimmerfenster, das in den Garten zeigt, ist es immer noch dunkelgrau. Die Büsche und Bäume sind nur schemenhaft zu erkennen. Schlafen kann ich nicht mehr, aber nachdenken. Ich denke daran, wie der verstorbene Moussa auf dem 40. Geburtstag seiner damaligen Frau mit ihr getanzt hat. Da habe ich ihn zum letzten Mal gesehen. Es war in N´Djamena im Innenhof eines Restaurants, vielleicht 2004 oder 2005. Es waren viele Kollegen da, es wurde gegessen, geredet, gelacht, getanzt und getrunken. Im Tschad hatten wir über all die Jahre ein sehr freundschaftliches Klima untereinander. Vielleicht weil es ein so hartes Land war, weil man die Menschen brauchte, etwas anderes gab es nicht.


Langsam wurde es hell draußen. Der Tag würde sich auf leisen Sohlen nähern. Wie angenehm, vor dem Tag eine Weile meinen ganz eigenen Gedanken und Erinnerungen nachgehangen zu haben!


Das ist mein Rezept für frühes Aufwachen. Man sollte das Wort „Schlafstörungen“ gar nicht in den Mund oder in den Kopf nehmen, man könnte das Phänomen unter „Momente der Freizeit oder der Freiheit“ einordnen, in welchen sich alles Mögliche ereignen kann. Heute Morgen hat es Verbundenheit mit der Welt erzeugt.

(c) Marion Fischer


Die Begegnung
 
Nach dem anstrengenden Tag schlief ich traumlos und kurz. Als ich gegen 6 erwachte, war es schon hell und die Vögel zwitscherten laut.

 

Gestern Abend war ich in Südafrika angekommen, zu einer Fortbildung mitten in einem Nationalpark.


Voll freudiger Erwartung sprang ich aus dem Bett und unter die Dusche, die sich im kleinen Hof unter freiem Himmel hinter meinem Zimmer befand. Was für ein Gefühl, im Freien zu duschen und doch völlig vor Blicken geschützt! Von irgendwoher roch es bereits nach frisch gebackenem Brot.


Ich zog mich an und ging in den Garten. Der Garten war zwar zum Park hin abgegrenzt - schließlich gab es Löwen da draußen - aber die Vegetation war auf beiden Seiten der Abgrenzung gleich üppig.


Außer dem Nachtwächter, der auf seinem Lehnstuhl hockte, und mir war noch niemand draußen. Ich begrüßte ihn, worauf er lächelte und schläfrig seine Hand hob. Dann ging ich los.


Der große Garten beherbergte Bäume und Büsche in unglaublicher Vielfalt. Es war Anfang der Regenzeit und alles quoll über von Blüten und Blättern in allen Farben und Formen und betörte mit mannigfaltigen unbekannten Gerüchen.


Mein Trampelpfad schlängelte sich dicht an taufeuchten Zweigen vorbei und eröffnete nach jeder Biegung den Blick auf wieder andere Vegetation.


 Ich begann mich wie ein Teil dieser Üppigkeit zu fühlen. Die Zweige streiften mich und teilten großzügig ihren Tau mit mir. Sie nahmen mich in ihre Mitte auf. Blüten rieselten bei der leisesten Berührung auf mich herab. Insekten schwirrten durch die Luft und ließen sich auf den Blüten und meiner mit Blumen bedruckten Bluse nieder. Immer wieder blieb ich stehen und sog den Duft tief ein. Ich wünschte mir, eine Pflanze unter all diesen Pflanzen zu sein.


Nach einer Weile tauchte ein Gebäude vor mir auf, geduckt, weiß mit grünen Fensterläden, eingebettet zwischen rot blühenden, ausladenden Flammenbäumen, von einer mit Moos bewachsenen Natursteinmauer umgeben. Das musste das Tagungshaus sein. Ich schlenderte gemächlich darauf zu.


Plötzlich hörte ich einen Laut, der sich gänzlich vom Vogelkonzert abhob. Er holte mich abrupt aus meinen Träumereien. Ein aufdringliches Tschilpen im Baum über mir.


Ich schaute hoch und sah einen ziemlich großen, grasgrünen Vogel mit einem gebogenen schwarzen Schnabel auf einem Ast über mir hocken. Er schaute kopfschüttelnd zu mir herunter und tschilpte aufgeregt weiter.


„Na du!“ sagte ich leise zu ihm, „Was machst du für einen Lärm? Kannst du dich nicht in das Konzert der anderen Vögel einfügen? Du störst die morgendliche Harmonie!“


Während ich weiter in Richtung Tagungsgebäude ging, wurde der grüne Vogel immer lauter.


In der Mauer gab eine hohe Pforte, die angelehnt war. Ich ergriff die Klinke, zog die Pforte zu mir hin auf und wollte eintreten.


Da stand im Abstand von nur einem Meter ein großer Strauß vor mir. So groß wie ich. Auge in Auge. Mein Herz raste. Wir schauten uns an und zögerten beide einen Augenblick. Mir schien, als würde er - vorwurfsvoll oder leise amüsiert - ob meines Eindringens in seine Welt - eine Augenbraue hochziehen…

Dann trat ich höflich vor seiner Autorität zurück und ließ ihm den Vortritt.


Er schritt majestätisch an mir vorbei, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen und verschwand mit stelzenden Schritten im Grün des Gartens. Ich schluckte, blieb kurz stehen und hielt inne, um mich von dem Schreck zu erholen.


Was für eine Begegnung! Ich schaute mich prüfend um.


Da fiel mir auf, dass das Tschilpen verstummt war. Hatte der laute Vogel mich warnen wollen? Oder eher den Strauß vor mir Eindringling in seine Welt? Nachdenklich betrat ich das Haus.

(c) Marion Fischer


Träume in Zeiten von Corona


Nun war es quasi „amtlich bestätigt“. Ich hatte psychovegetative Erschöpfungszustände. Der Psycho, zu dem mein Hausarzt mich geschickt hatte, hatte es mir schriftlich gegeben.


Statt geschockt zu sein, war ich erleichtert. Wie früher als Kind, wenn ich mich schlecht gefühlt hatte und das Fieberthermometer wirklich Fieber anzeigte, ich also allen Grund hatte, mich schlecht zu fühlen.


Ja, psychovegetative Erschöpfungszustände waren diagnostiziert. Und ich solle dringend eine Kur machen! Herrlich! Eine Kur wollte ich seit Jahrzehnten und hatte diesen Wusch nie in die Tat umgesetzt. Keine Zeit!


Ich war so begeistert und enthusiastisch über die Aussage des Psycho, dass ich dachte, das feiere ich, ich geh jetzt erst mal zu Klingelhöfer, trinke eine Tasse richtiger Schokolade (sonst nie wegen der Kalorien) und esse ein großes sahniges Stück Torte. Wahnsinn! Man soll doch die Feste feiern, wie sie fallen!


An der Kuchentheke ließ ich lächelnd meinen Blick über all die wunderschönen Torten gleiten. Es war noch Vormittag, keine war angeschnitten. Alle Kunstwerke prangten dort auf ihren Tellern mit Spitzendeckchen, unversehrt in ihrer vollen Pracht und Sahnigkeit.  Ich entschied mich für eine rosafarbene mit Himbeeren.


Ich ging Richtung Wintergarten, wo alles noch frei war und ließ mich auf einem Korbstuhl nieder. Wunderbar, ein Mittwochmorgen und ich saß im Café.  Ich aß langsam meine Torte und ließ mir den sanften fruchtigen Sahnegeschmack auf der Zunge zergehen. Nach jedem Gäbelchen ein Schlückchen Schokolade!


Als ich mein süßes Mahl beendet hatte, dachte ich: Nun geht es darum, Deine Kur zu planen! Was für eine schöne Aufgabe im Vergleich zu meinen sonstigen Aufgaben! Etwas für mich ganz allein! Ich bestellte mir noch ein Glas Sekt, das würde mir zu beschwingtem Planen verhelfen!


Ein adretter Kellner kam und brachte mir das Glas. „Zum Wohlsein!“ sagte er und schaute mich freundlich an.


Ich nahm einen ersten Schluck und begann mir vorzustellen, wie es sein würde in der Kur. Ich dachte an helles Sonnenlicht und einen weiten Blick…ob man nicht zum Beispiel in der Toskana kuren könnte? Warum nicht? Wozu schließlich hatten wir eine EU? Ich nahm noch ein paar Schlückchen und träumte weiter. Klar, warum nicht die Toskana? Das war genau das, was meine Seele baumeln lassen würde. Weite grüne Hügellandschaften, auf den Hügeln entzückende kleine alte Städte, guter Wein und gutes Essen. All das würde mich wieder in Form bringen!


Ich bestellte noch einen Sekt. Der hübsche Kellner brachte mir das 2. Glas. Sah er nicht irgendwie italienisch aus?


Gleich morgen würde ich den Psycho anrufen und ihm von meiner guten Idee, die Kur in der Toskana zu machen, erzählen und um seine Unterstützung bitten. Nun ja, Italienisch müsste ich noch lernen! Aber das hatte ich schon mehrmals angefangen, es konnte doch kein Problem sein, das in kürzester Zeit auf Vordermann zu bringen. Ich müsste halt gleich die entsprechende Fachsprache für psychovegetative Erschöpfungszustände lernen! Easy!


Sollte ich noch ein Gläschen Sekt bestellen? Hm. Ich fühlte mich schon leise beschwipst. Sekt auf Sahne wirkte gut. Wieder was dazu gelernt!


Also, ich zahlte lieber und machte mich auf den Heimweg.


Zu Hause angekommen legte ich mich erst mal aufs Sofa, um ein Nickerchen zu machen. Danach würde ich fit sein, um meine Pläne weiter voran zu treiben.


Ich schloss zufrieden die Augen und schlief augenblicklich ein. – Da war sie auch schon wieder, in meinem Traum sah ich die Toskana auftauchen, genau wie sie sein sollte.


Doch was war das? Da standen zwei weiße Gebäude mit roten Dächern vor mir im gleißenden Sonnenlicht und warfen seltsame Schatten wie Uhrzeiger, ein großer dünner und ein kleiner dicker Uhrzeiger…komisch…ich ging darauf zu, um sie mir näher anzuschauen. Sie verschandelten die Landschaft. Sie störten die Harmonie. Sie waren gerade im Geschwungenen. Mit scheußlichen Pfeilspitzen an den Enden. Sie machten mich nervös. Oder waren es Wegweiser? Sollten sie mir zeigen, wohin es gehen sollte? Ich war verwirrt. Was sollte das? Sie sollten weg aus der schönen Toskana, ich wollte keine Uhrzeiger und keine Wegweiser, nur geschwungene Wege im Grünen.


Da wachte ich auf, das Handy klingelte. Noch im Halbschlaf und verwirrt nahm ich den Anruf an. „Praxis Dr. Müller“, sagte eine Stimme energisch „ich habe eine erfreuliche Mitteilung für Sie! Ich habe schon einen Platz für eine Kur für Sie, Sie können schon nächste Woche nach Bad Wildungen kommen! Dr. Müller hat seine ganze Überzeugungskraft einsetzen müssen, damit es so schnell klappt! Wir schicken Ihnen die Formulare zu, die Sie bitte baldmöglichst ausfüllen, tschüss und alles Gute, Frau Fischer!“


„Ähäh“ machte ich, aber die Dame hatte schon aufgelegt.


Schade, keine Toskana! Aber was soll´s, dachte ich, Bad Wildungen ist doch auch nicht schlecht…Da gibt es den Edersee, dieses Fischrestaurant direkt am See, den Kurpark und dann das Café an der Hauptstraße mit dem Grünstreifen in der Mitte…wie hieß es doch gleich…ich lächelte versonnen…ich würde einfach einen neuen Traum träumen!

 

(c) Marion Fischer