Der Märchenmann

Er fuhr morgens mit der Straßenbahn um siebenuhrzehn, so wie ich. 
Wir stiegen zusammen an der Endhaltestelle ein. Er setze sich immer auf denselben Platz, direkt hinter dem Einstieg links. Ich gewohnheitsmäßig auf die rechte gegenüber liegende Seite, wo ich ihn unauffällig im Blick behalten konnte.
Ich war ein junges Ding mit jeder Menge Ideen und Bildern im Kopf und ich dachte mir zu allem und jedem eine Geschichte aus. Natürlich auch zu ihm.
Er verstand es nie, richtig zu grüßen. Er nickte mir immer nur zu und auf mein „guten Tag“ sagte er immer: „vielleicht“, mit einem weichen sch am Ende und dabei zuckte er ein wenig mit den Schultern.

Bestimmt war er einige Jahre älter als ich, vielleicht Mitte zwanzig.
Er hatte blaue Augen, winterblau, um genau zu sein. So winterblau, dass man sofort an einen tiefgründigen Gletschersee dachte, in dem man versinken wollte.
Seine löwenfarbene Mähne trug er der Mode entsprechend etwas länger, was ihn leicht verwegen erscheinen ließ. Trotzdem waren seine Haare überaus gepflegt, heute würde man gestylt sagen. Nie fiel ihm etwa eine Strähne ins fein geschnittene Gesicht!
Seine Kleidung war eher chic und betonte die schlanke Figur. Dazu trug er eine lässige Lederjacke, die nicht billig aussah und sein Aussehen maskulin betonte, da er ansonsten eher feminin wirkte.
Er schien offensichtlich ein Mensch zu sein, der sich nicht entscheiden konnte, zwischen seriösem Chick und unkonventioneller Lässigkeit.

Eigentlich war er gar nicht mein Typ. Viel zu geschniegelt und viel zu blond für meinen Geschmack. Ich mochte dunkelhaarige große und kräftige Männer mit männlicher Präsenz. Trotzdem war ich jeden Morgen wieder überwältigt von ihm.
Und jeden Morgen rätselte ich aufs Neue über seinen Beruf und sein Leben.

In welchem Architekturbüro mochte er sitzen? Unterrichtete er, frisch von der Uni entlassen, in irgendeiner Schule in der Innenstadt? Oder war er Standesbeamter, oder gar in einer Kanzlei?
War etwa der Grund für das „vielleischt“ seine französische Abstammung?
Ja, an einem Morgen war ich mir fast sicher, dass er, vermittelt über die Deutsch-Französische Gesellschaft in einem Praktikum tätig war und nur gebrochen oder gar nicht Deutsch sprach. „Vielleischt“ rührte daher auch seine Zurückhaltung. 
Und warum sah ich ihn außerhalb dieser Straßenbahn nirgendwo, 
er musste doch in unserem Viertel wohnen?
Bestimmt hatte er eine tolle Freundin, mit der er gar nicht viel reden musste, dunkelhaarig, schlank und mit aufregenden Beinen, die ihn anhimmelte, wenn er abends in seiner Band spielte. Denn er spielte bestimmt in einer Band, wenn man so aussah, spielte man in einer Band die Bassgitarre oder sang mit samtiger, ins Herz dringender Stimme!
Dieser kleine Hauch von Exklusivität der ihn umgab und in den ich mich mit jedem Tag mehr verliebte, entführte mich aus meiner eigenen, nicht gerade aufregenden Realität.
Ich saß nämlich Tagein Tagaus im geblümten Minikleid wie ein gefangener Schmetterling im Polizeipräsidium und bearbeitete Bußgeldbescheide. Der muffige alte Kasten aus schwarzem Sandstein schluckte mich jeden Morgen und hielt mich so lange fest, bis alle Lebensfreude aus mir gewichen war und spuckte mich am späten Nachmittag wieder schlapp und zusammen geschnurrt aus. Das Ganze schimpfte sich Ausbildung.

Ich nannte den Schönen aus der Straßenbahn „Märchenmann“, weil er jeden Morgen, nachdem die Straßenbahn sich in Bewegung gesetzt hatte, einen Apfel aus seiner Aktentasche zog und mit einem gesunden Krachen hinein biss.
Danach sank er in die Ecke seines Sitzes und fiel in einen komatösen Schlaf, so, als habe eine böse Fee ihm den Apfel vergiftet. Was meine Vermutung bestätigte, dass er in einer Band spielten musste. Sicher hatte er bis in die Nacht hinein:

„I can’t get no, satisfaction“ oder „love me, do!“ geübt.

Jeden Morgen wartete ich darauf, dass er seine Haltestelle „vielleischt“ verschlief, war gespannt, ob das Rumpeln der Straßenbahn, ihn rechtzeitig aus dem Schlummer beförderte, wenn sie die Schleife um den Zoo nahm.
Wenn er sich, den Kurven der Straßenbahn folgend, mit der Andeutung eines Lächelns auf den geschwungenen Lippen, schlafend hin und her wiegte, stiegen erotische Gefühle in mir hoch und mein Herz schlug wie wild.

Ach, meinen Märchenmann! Wie habe ich ihn von Tag zu Tag mehr vergöttert, nur das Schönste, Größte und Männlichste was einen Mann ausmachen kann, in ihn hinein gedacht!
Er aber schlief und außer einem kurzen Nicken und seinem „Vielleischt“ bekam ich nichts von ihm zu hören. Mein Morgengruß reichte anscheinend nicht aus, seine Aufmerksamkeit so auf mich zu lenken, dass sie den Apfel, den Schlaf und seine Flucht verhinderten.
Ja, wie eine Flucht war es jedes Mal, wenn er an der Hauptwache aus einem scheinbar hundertjährigen Schlaf aufschreckte,  davon stürzte und mich allmorgendlich mit den Gedanken zurück ließ: „Vielleicht vergisst er ja mal seinen Apfel, vielleicht wacht er ja morgen einen Moment vor dem Aussteigen auf und schaut mich lächelnd an!“

Irgendwann am Postschalter der Hauptpost, wo ich gewöhnlich nicht meine Briefe hin trug, saß er hinter der Scheibe, da, wo ich ihn niemals hin gedacht hätte. Zerstreut hatte ich mich in die Schlange hinter einem Riesen eingereiht und sah ihn erst, als ich vor dem Schalter stand. Sprachlos und wie erstarrt umklammerte ich meine Briefe und starrte ihn fassungslos an.
Er lächelte erkennend und bewundernd, so, wie es ihm anscheinend in der Frühe nicht möglich war.
In meine Schockstarre hefteten sich seine gletscherblauen Augen und ich hörte den Märchenmann fragen:
Un, wivll Märkscher krische mer dann?*
Die endgültige Entzauberung geschah nur in diesen sechs Worten.
Sprachlos und ihn immer noch ungläubig anstaunend schob ich meine Post über den Tresen und spürte in mir ein Kartenwerk in der Größe des Kölner Doms einstürzen.
Als er die löwenfarbene Mähne schüttelte und mich mit seinem winterblauen Lächeln fragte: „Wolle mer ma en Kaffee dringke gehe“ *
konnte ich nur stammeln: „Äh, Vielleischt“. *

*Frankfurter Dialekt


© Hermine Geißler