Der Tag an dem ich aus einer Mücke einen Elefanten machte

Montagmorgen, es regnet in Strömen, meine tägliche Joggingrunde fällt damit buchstäblich ins Wasser. Dann ruft noch vor dem Frühstück meine Ex an, ich soll am Wochenende Markus nehmen. Sie müsste überraschend zu einer Fortbildung.
 „Nennt man sein kinderfreies Wochenende mit Lover heutzutage Fortbildung?“ frage ich empört. Sie beleidigt: „Wer war es denn, der partout keine feste Besuchsregelung wollte? Schon vergessen? Dein einziges Kind soll kommen dürfen, wann immer ihm danach ist!“ Stimmt. Leider. Inzwischen könnte ich mich ohrfeigen, denn dieser nervige Achtjährige sehnt sich offenbar jedes Wochenende nach mir. Sonntag für Sonntag Zoo – und hin und wieder Kino oder Sommerrodelbahn - wie soll ein Mann unter diesen Umständen jemals zu einer neuen Frau kommen?
„Aber frühestens am Samstag Nachmittag“, räume ich widerwillig ein, „vorher muss ich noch ins Büro.“
„Geht nicht, ich muss schon Freitagabend fahren! Am besten Du holst ihn gleich von der Schule ab!“ Wütend lege ich den Hörer auf. Die Frau weiß genau, dass ich so früh am Morgen wehrlos bin.
Als dann auch noch mein Parkplatz vor unserem Versicherungshochhaus belegt ist und ich geschlagene 10 Minuten brauche, um meinen BMW abzustellen, ist der Tag für mich gelaufen.
Ich konnte ja nicht ahnen, wie falsch ich damit lag.
Alles fängt damit an, dass unsere neue Azubi namens Frau Siebert (auf das „Frau“ legt sie größten Wert, mit grade mal 19 Jahren!), Abiturientin immerhin, in einem einzigen Brief drei Kommafehler macht. Drei! In einem einzigen zehnzeiligen Brief. Ich fass es nicht! „Frau Siebert“, sage ich ganz sachlich, aber mit deutlicher Betonung auf „Frau“, „Sie haben Abitur! Und dann drei Kommafehler! Wozu zahlt der Steuerzahler Leuten wie Ihnen eigentlich die Hochschulreife? Wie wollen Sie jemals in der Versicherungsbranche Fuß fassen, wenn Sie nicht mal einen einzigen Brief halbwegs fehlerfrei schreiben können!“ Und dabei erhebe ich dann doch meine Stimme. Man muss den Neulingen schließlich unmissverständlich klarmachen, wo es langgeht.
Einige Sachbearbeiter blicken schon neugierig mit ihren unausgeschlafenen Montagmorgen-Gesichtern über ihre mobilen Trennwände zu uns hinüber.
„Reg dich nicht auf“ höre ich die Kollegin Kreutzer sagen, “der alte Bommer macht wieder mal aus einer Mücke einen Elefanten“.
„Alt“, sagt die Frau tatsächlich. Alt. Ich bin grade mal Mitte 40, topfit und sehe keinen Tag älter aus als Mitte 30. Als ich wieder zurück an meinen Schreibtisch gehe, höre ich leises Kichern. Das kann ich mir nun wirklich nicht bieten lassen, schließlich bin ich der Chef. Oder zumindest doch beinahe, jedenfalls sowas Ähnliches. Es wird Zeit, das mal  klar zu stellen.
„Aus einer Mücke einen Elefanten? Soso. Wissen Sie eigentlich, wovon Sie reden? Wissen Sie, welche Wirkung Mücken haben können? Der Flügelschlag einer einzigen Mücke in der Sahara kann in China einen Hurrikan auslösen! Wohl nie was von Chaos-Theorie gehört! Aber Abitur!“ Die Kreutzer und Frau (!) Siebert sehen mich in dumpfer Verständnislosigkeit an.
„Ein Schmetterling!“ tönt es aus Box 4, wo ein stellungsloser Lehrer einer niederen Sachbearbeitertätigkeit nachgeht.
„Wie bitte?“
„Es heißt: Der Flügelschlag eines Schmetterlings. Und im Golf von Mexiko, nicht in der Sahara, und außerdem....“
„Vielen Dank, Herr Oberstudienrat“, unterbreche ich ihn mit beißender Ironie. Woraufhin sich der verhinderte Beamte beleidigt in seine Koje zurückzieht.

Es hätte mich gleich stutzig machen müssen, dass just in diesem Moment eine Mücke vor meiner Nase herumtanzt. Und sich dazu noch bereitwillig von mir fangen lässt. Später fragte ich mich natürlich, wie sie überhaupt durch die Klimaanlage kommen konnte.
Nun aber kommt sie mir gerade recht. Ich halte den beiden Frauen also die Hand mit der Mücke entgegen: „Also“, versuche ich ihrem Hirn am Montagfrüh auf die Sprünge zu helfen, „ob Sie es nun glauben oder nicht, diese Mücke ist ein Elefant, meine Damen. Ein Elefant!. Es kommt nur auf die Perspektive an. Aus der Sicht einer Mikrobe zum Beispiel ...“
Jetzt fangen die beiden doch tatsächlich an zu lachen, mir direkt ins Gesicht. Auch aus den anderen Boxen kommen Geräusche, die sich eindeutig nach unterdrücktem Lachen anhören. Ein paar Kollegen haben sich extra erhoben und grinsen unverfroren über ihre Boxenwände in unserer Richtung. Ich gebe auf und lasse die Mücke wieder frei. Gegen Dummheit ist einfach kein Kraut gewachsen.
Doch die eben noch grinsenden Gesichter erstarren urplötzlich zu Masken des Schreckens..„Oh Gott“, flüstert die Mosberger mit weit aufgerissenen Augen. Der Beinahe-Oberstudienrat stöhnt, die Kreutzer kreischt, die Siebert schlägt sich die Hand vor den Mund. Und der alte Oderberg sieht aus, als bekäme er so kurz vor Rentenbeginn noch seinen dritten Herzinfarkt.
„Was ist denn nun schon wieder?“
Und dann pustet und schnaubt es von irgendwo hinten, ich spüre feucht-warmes Gebläse in meinem Nacken, höre hinter mir schwerfälliges Stampfen und sehe vor mir die mobilen Boxenwände wackeln. Ganz langsam drehe ich mich um.
Und da steht er, der Elefant. Hier, im 10. Stock einer Versicherungsgesellschaft. Ein Elefant. Sein Kopf mit den großen Ohren reicht bis zur Decke. Ein afrikanischer Steppenelefant also, weiß ich instinktiv, ein Jungbulle, denn ausgewachsen kann seine Sorte bis zu vier Metern erreichen. Bei meinen regelmäßigen Zoobesuchen habe ich schließlich einiges gelernt.
Und dann bricht ein Trubel los, wie ihn unsere Versicherung noch nie erlebt hat. Alle schreien durcheinander, einige weichen zurück, andere kommen näher, die Mayer steigt sogar auf ihren Schreibtisch.
Ich selbst bewahre zum Glück einen kühlen Kopf. Jetzt ist Führungsstärke angesagt.
Als erstes rufe ich die Polizei an. Unglücklicherweise halten die meinen Anruf für groben Unfug, und ich muss erst mit Dienstaufsichtsbeschwerde und öffentlicher Bloßstellung in der Lokalpresse drohen, bis der Mann am anderen Ende der Leitung endlich erklärt, er werde eine Streife vorbei schicken. „Aber wehe, das war ein Scherz! Ich warne Sie! Grober Unfug kostet Sie eine Stange Geld.“

Inzwischen hat die Kreutzer die Feuerwehr benachrichtigt. Und der verhinderte Oberstudienrat den Tierschutzverein. Den Tierschutzverein! Dieser Möchtegern-Beamte-auf-Lebenszeit!

Unsere Etage bevölkert sich. Am Ende behält außer mir nur der Elefant seine Nerven. Fast unbeweglich steht er da und schaut seelenruhig zu, wie sich Feuerwehrleute, Polizei und die beiden Damen vom Tierschutzverein gegenseitig auf die Füße treten und derweil die Angestellten hektisch versuchen, ihre Papiere und PCs in Sicherheit zu bringen.
Das Tier scheint noch ein Kind zu sein, zum Glück. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn er ein erwachsener Bulle gewesen wäre! Er wäre durch die Decke und hätte die ganze obere Etage mit demoliert, mindestens.

Die Feuerwehrleute sorgen dann auch dafür, dass jemand den Zoo benachrichtigt. Die wiederum organisieren schließlich einen Riesenkran, den ein Bauunternehmen zur Verfügung stellt. Man kann ja so ein Tier nicht einfach in den Aufzug bitten und durch die Tür hinaus begleiten.

Der Zoodirekter ist mit vier Elefantenpflegern gekommen und überwacht höchstpersönlich, wie dem Tier breite Riemen um den Leib gelegt werden und es dann ganz langsam durch das Fenster hoch über den Straßen gehoben wird. Zum Glück haben wir Panoramafenster, durch die sogar ein Elefant locker durchpasst. Allerdings hat allein das Ausheben des Fensters schon fast vier Stunden gedauert. Und natürlich habe ich veranlasst, dass alle ihre Büros räumen und das Papier verstauen, denn wo käme man hin, wenn wegen des Luftzugs geheime Versicherungsunterlagen durchs Fenster entschweben würden.

Die ganze Zeit bleibt der Elefant erstaunlich cool. Zwar gehen mindestens vier Stühle zu Bruch, als er mal ein paar Schritte vorwärts macht, aber die meiste Zeit guckt er wie ein Stoiker aus seiner Höhe auf das Durcheinander und zuckt mit keiner Wimper. Die Stoiker waren ja bei den alten Griechen auch immer die ganz Ruhigen.

Die Prozedur dauert und dauert, bis in den späten Abend. Die vier Pfleger sorgen dafür, dass der kleine Bulle zwischendurch auch mal was zum Fressen bekommt, und natürlich auch eimerweise zu Trinken. Das Heu frisst er noch ganz manierlich, aber das Wasser prustet er nur so durch die Gegend. Was jetzt noch herum liegt, ist natürlich total versaut. Die mobilen Wände sind teilweise auch gekippt, aber daraus kann man dem Tier ja keinen Vorwurf machen.

In all dem Trubel muss dann auch noch die Geschäftsleitung ankommen und nutzlos hier herum stehen! Unten auf der Straße ist derweil ein Menschenauflauf, der immer größer wird. Die Polizei muss extra den Verkehr umleiten und die Leute immer wieder hinter die Absperrgitter drängen.

Dann braucht es nicht mehr lange, und ich bin berühmt. Die Lokalpresse, der Rundfunk, schließlich das Fernsehen –  alle wollen sie mich vor’s Mikrofon, vor die Kameras. Sogar die ARD kommt, und spät abends in den Tagesthemen zeigen sie mich, wie ich da vor dem herausgebrochenen Fenster stehe, der Elefant an dicken Gurten hinter mir hinaus schwebend.
Ich muss sagen, ich mache eine gute Figur im Fernsehen. Ich könnte eigentlich jeder Zeit vor die Kamera, ich lass mich ja kleidungsmäßig nicht so gehen wie manche Männer, wenn sie gezwungen sind, mal eine Zeitlang ohne Frau zu leben.

Natürlich fragen alle, wie ich das gemacht habe - aus der sprichwörtlichen Mücke einen Elefanten ins Bürohochhaus gezaubert. „Verraten Sie uns doch mal den Trick!“
Die Siebert und die Kreutzer und alle anderen haben es bestätigt: Ich war derjenige, welcher. Aber einen Trick hatte niemand bemerkt. Wie auch. Ich weiß ja selbst nicht, was da passiert war.
Man bringt mir heute Respekt entgegen, sogar hier im Büro. Es ist ja kaum zu glauben, wie anders sich Menschen verhalten, wenn sie es mit jemandem zu tun haben, der zu Ruhm gekommen ist. Direkt wohltuend. Ach ja, und die Auswahl an Frauen wird natürlich auch größer.

Der junge Elefant hat inzwischen im Zoo seine neue Heimat gefunden. Dadurch werden die sonntäglichen Zoobesuche für Markus und mich jedesmal zum Auftritt. Man bittet mich um Fotos für’s Famlienalbum, mit Eltern, Kindern, dem Elefanten und vor allem mit mir im Vordergrund. Inzwischen habe ich auch Autogrammkarten anfertigen lassen, die sehr gefragt sind. So was gibt einem Zoobesuch doch eine ganz andere Dimension.

Der afrikanische Steppenelefant ist nach mir benannt: „Herr Bommer“ heißt er. Ungelogen, „Herr (!) Bommer“ steht auf seinem Namenschild, „benannt nach dem Versicherungsangestellten Dieter Bommer, von dem es heißt, er habe im November 2017 aus einer Mücke diesen Elefanten gemacht“. Nun ja, „von dem es heißt“ hätte man sich sparen können. Immerhin habe ich jede Menge Zeugen.

Der Tag, an dem ich diesen Elefanten aus einer einfachen Mücke gemacht habe, hat mein Leben von Grund auf geändert. Es ist schon bemerkenswert, wie einen die Menschen umgarnen, wenn man erst mal berühmt ist und im Fernsehen war. Man wird geachtet, und das tut gut.

 

© Gunhild Gutschmidt