Grimm-Popourri
Es war einmal ein Querdenker mit Namen Hans, dem hing sein Geschäft zum Hals heraus. Er entfernte das Holzschild über der Eingangstür, auf das er vor vielen Jahren
so selbstbewusst: “Änderungsschneiderei“ gemalt hatte, gelbe Buchstaben auf grünem Grund, mit roten Rosen umrankt. Dann verkaufte er alles Inventar zu einem Spottpreis, desgleichen auch seine
persönliche Habe, die recht bescheiden war, hatte er doch auf dem Tisch in der Mitte seines Raumes gesessen und genäht, gegessen und darunter auf einer Matratze geschlafen. Der Erlös reichte für
einen Flug ans Ende der Welt, da wo Sonne und Mond sich begegnen. Hier wollte er fürderhin leben.
Seine Schere nahm er mit, war sie doch das Attribut seiner langjährigen Profession, alles abzuschneiden, was nicht in seine Vorstellungen passte. Zudem war sie ein
Inbegriff für Zweigeteiltes und mittig Zusammengehaltenes. Die Schere nun für immer zu schließen bedeutete ihm, einer innerlich empfundenen Einheit zu folgen, fern vom Maßnehmen mit dem
Zollstock und der Elle um des Gelderwerbs willen, und fürderhin Armut nicht mehr als Schande zu erleben.
Er sortierte seine Wünsche, trennte sorgfältig die wichtigen von den unwichtigen. Übrig blieb sein größter, ein Ehegesponst, das so wie er war, nämlich mutig für
Neues. „Ich Sonne, Du Mond“, würde er sagen, diese Worte lebten in seinem Herzen.
Er fand eine Hütte an einem Bach, so hoch gelegen, dass die Quelle auch im heißesten Sommer nicht versiegte. Genügsam verbrachte er seine Zeit im Lotussitz auf
einem bemoosten Stein im Wasser und lauschte dem Wind und den Wellen, die wie weißgelockte Zicklein um ihn herumsprangen und an seinen Zehen leckten.
Eines Tages erklomm ein steinalt Weiblein den letzten großen Felsen vor der Hütte. Schnaufend und nach Atem ringend blieb sie stehen, betrachtete Hans mit
wackelndem Kopf, streckte einen knotigen Finger aus, den ein krumm gewachsener Nagel krönte und winkte Hans zu, als könnte sie mit dem Fingerhaken an einem unsichtbaren Seil ziehen, das sie beide
verband.
“Komm, mein Söhnchen“, krächzte sie, „sind wir nicht beide in die Jahre gekommen und brauchen einander nicht mehr spinnefeind zu sein?“ „Ich wars nicht!“,
rief Hans, „ die Gretel wars!“ Die Alte kicherte. „Du wirst sehen, Du wirst sehen“, antwortete sie, „alles ist ganz anders als du denkst!“
Hinter ihr erschienen einer nach dem anderen sieben Männer, die so zierlich waren, dass sie nur einer auf des
anderen Schultern die Höhe der Steine bewältigten. Dem letzten warfen sie ein Seil herunter, an dem er sich hochziehen konnte. Hans beschloss, die ungebetenen Gäste
zu ignorieren, stellte sich auf ein Bein, stemmte den Fuß des anderen Beines fest gegen den Oberschenkel und verharrte mit erhobenen Armen. Das Schweigen hatte er ja nun lange genug geübt,
und wenn die Gestalten sich nicht wie ein Spuk in Luft auflösen würden, könnte er immer noch seine Schere nehmen und die Bilder aus seinem Gesichtsfeld herausschneiden.
Hans hatte nun Zeit und Muße genug, die sonderbare Gesellschaft betrachten. Sie liefen geschäftig hin und her, als wären sie hier, an seinem heiligen Ort, zu Hause.
Plapperten ohn Unterlass vor sich hin: “Heinz, kommst du mal..“ „Karl-Peter, hast du die Handtücher?“ „Claudius, such doch mal nach Herrmann, ist er beim Austreten in eine Felsspalte gerutscht“.
„Leonhard, das war aber wirklich knapp, musst du dich immer so breit machen“. Zwischendrin die Stimme der Alten, und jedes Mal, wenn Hans blinzelte, weil er nichts verpassen wollte, wies sie mit
dem Finger auf ihn und zog und zog, dass sich Hans krümmte, um nur das Gleichgewicht auf seinem Stein nicht zu verlieren.
Plötzlich stand vor der Hütte ein großer Tisch mit einem weißen Leintuch, Gedecke blitzten in der Sonne, Wein schimmerte in Kelchen rot wie Blut.
Die Zwerge trugen Teller heran, mit silbernen Deckeln bedeckt. Der letzte und kleinste, den seine Freunde mit dem Seil heraufgezogen hatten, stolperte, stürzte, die
Platte flog zu Boden und heraus kroch eine Schlange. Sie leuchtete in der hellen Sonne in einem wunderschönen Smaragdgrün, und bevor der Zwerg sie packen konnte, kringelte sie sich um ihn
herum.
„Dummer Kerl“, schrie das alte Weib und schoss aus ihrem Finger mit dem krummen Nagel Blitze auf den armen Zwerg. Mit einem Schrei sank er zu Boden und
hüpfte alsbald als Mäuslein herum, vergebens ein Schlupfloch suchend. Die Schlange verschlang es und glitt in den Bach hinein in den weißen Schaum der Wellen um Hansens Stein.
Dem armen Mann ward ganz schauerlich zumute. Was geschah hier vor seinen Augen? War die Schlange eine Gefangene der Hexe gewesen und hatte sie sie essen wollen wie
weiland ihn, als er noch ein unschuldiges Kind war?
„Ich habe Dornröschen den Tod gewünscht,“ gellte plötzlich die Stimme der Alten. „Ich war die dreizehnte Fee!“
„Und ich habe mit Riesen gekämpft und gewonnen!“, rief Hans, mit großen Sprüngen setzte er über den Bach.
„Ich habe Rapunzel eingesperrt!“ Höhnisch grinste das Weib Hans an. Er hatte angebissen.
„Ich habe sieben auf einen Streich erledigt“, diese Worte, ausgerechnet sieben an der Zahl, purzelten aus seinem Mund, ehe Hans nachdenken konnte. Er fühlte sich
wie fremdgesteuert, seine schöne geordnete Welt verrückte sich.
„Alles Schmeißfliegen, Du Aufschneider und Marmeladenbrotesser!“, die Alte kicherte. “Und einen Stein zerquetschen kannst du wohl auch?“. Sie verfiel in ein
monotones Summen: „ Käse für Stein, Vogel für Stein“, nahm einen Stein aus dem Bachufer und drehte und wendete ihn in ihren krummen Händen.
Es klang wie Beschwörungen, und Hans meinte zu verstehen:
„Hans für Stein, Hans für Stein!“
Da hub er an zu singen, er sang sich seinen Schutz , denn so durfte die Alte niemals mehr mit ihm verfahren. Ihn und Gretel, als sie Kinder waren, zu Mördern
machen. Eigentlich sang es aus ihm heraus, und er hörte sich wie aus weiter Ferne:
„ Ich schleife die Schere
und drehe geschwind.
Und hänge mein Mäntelchen
Nach dem Wind“.
Ganz unheimlich und bang ward Hans, wie zwiegeteilt und in der Mitte auseinandergerissen.
„Das dachte ich mir, einmal Schneider, immer Schneider!“, keifte die Alte und schnippte mit den Fingern. „Mir kannst du nichts vormachen wie dem dummen Riesen. Dies
ist ab sofort hier meine Hütte, die Zwerge habe ich geholt, damit sie mir putzen und kochen!“.
„Das ist nicht wahr!“, rief der Älteste, „ wir haben dich aus Mitleid aufgenommen“.
„Quatsch!“, schrie die Hexe, sie war inzwischen in Hochform und die Luft gleißte und flimmerte um sie herum. „Ihr ward verlaust und verwahrlost, nachdem
Schneewittchen Euch verlassen hatte“.
„ Die Feengilde hatte dich ausgeschlossen, und als Hexe bist du im Backofen gelandet. Du warst einfach nicht gut genug!“
„Dreimal schwarzer Katerquatsch!“, die Alte hüpfte vor Vergnügen, „da ich nicht gestorben bin und noch heute lebe, ist bewiesen, dass ich eine echte Grimmsche
Hexe bin mit allem, was dazu gehört!“ Sie fegte mit wehenden Kleidern durch die Luft und setzte sich auf das Dach der Hütte.
„Und wie dankst du uns das?“ rief der zweite Zwerg empört zu ihr nach oben, „ unseren Heinz in eine Maus verwandeln, lächerlich, wenn du mehr nicht bringen kannst:
Zauber ihn zurück oder wir ziehen dir eiserne Pantoffeln an.“
„Habe ich nicht alles getan so wie Schneewittchen? Gewaschen, gekocht, Schnee gekehrt, Eure Betten ausgeschüttelt?“
„Du bist hässlich, Schneewittchen war die Schönste im ganzen Land!“, rief der sechste Zwerg.
„Schönheit und Jugend sind nicht alles!“, schrie die alte Frau.
„Das Kohlenfeuer brennt schon, rot glühen müssen die Schuhe!“ Der dritte Zwerg rollte genüsslich die Augen. „Und dann musst du so lange tanzen, bis du tot
umfällst“
Die sechs stießen einander an und zwinkerten sich zu. „Das zieht immer!“, sagte der vierte zum fünften Zwerg.
Da schwebte die Alte wieder hinunter zu Erde. hob ihren Zauberstab, die Schlange im Bach wand sich mit aufgeblähtem Leib, rülpste und heraus fiel der kleinste
Zwerg. Patschnass krabbelte er aus dem Wasser und rief:
„Haltet ein, Freunde! Hört auf, Euch zu streiten!“
Ein Grollen ging durch den Boden, auf dem sie standen. Steine rollten wie von unsichtbarer Hand angestoßen und polterten den Berg hinunter. Das Wasser schäumte
hoch, und der Bach trat über die Ufer.
Denn die heilige Ordnung der Grimmschen Märchen ward auf den Kopf gestellt. Die Alte hatte nichts als Verwirrung gestiftet. Wie es das Alter eben mit sich
bringt, war ihre Zauberkraft nicht mehr so mächtig wie früher.
.Hans stolperte und stürzte nach vorn.
„Ich bin so müde, „ murmelte er in die Erde vor seinem Angesicht, „dass ich die Augen nicht aufbehalten mag; ich will ein wenig schlafen. Wenn nur kein Windstoss
kommt und bläst mir meine Beine vom Leib weg, denn sie sind vom vielen Schneidersitzen und Einbeinstehen mürb wie Zunder.“
Benommen wachte Hans nach langer Zeit auf, schwankte auf seinen Füßen und sah sich um. Keine Zwerge, keine Hexe. Da stand seine Hütte, da war der Bach, da war sein
Stein. Ein würziger Geruch nach wildem Thymian in der Luft. Er war allein. Welch ein Glück!
Der Mond stieg rotgolden und lächelnd über dem Horizont hoch und über ihm leuchtete eine milde Sonne.
„ So habt denn Ihr einander, für immer, ich bins zufrieden, hier auf Erden für mich zu sein“, rief Hans.
Da berührte ihn jemand an der Schulter.
Hans sah sich um. Eine dunkle Gestalt stand hinter ihm.
“Nicht schon wieder ungebetene Gäste“, dachte Hans.
„Folge mir, die Stunde deines Abschieds von der Welt ist gekommen“, die Stimme schien von überall her zu kommen, und doch wusste Hans, dass der Tod zu ihm
sprach.
Er zog seine Schere aus dem Gürtel und richtete sie auf den Besucher.
„Sterben werde ich nicht“, verkündete er, „ich wollte nur, die bösen Tage der Krankheit wären erst vorüber“. Als wäre der Tod der Riese, dem Hans vormachen könnte,
wie schlau und stark einer ist, der aufschneiden kann.
„Denn du hast mir keine Boten geschickt“, fuhr Hans, der Schneider, fort und öffnete die Schere, um dem Tod das Wort abzuschneiden.
„Schweig“, erwiderte der Tod,“ habe ich dir nicht einen Boten über den anderen geschickt? Kam nicht das Fieber, stieß dich an, rüttelte dich und warf dich
nieder?
Hat der Schwindel dir nicht den Kopf betäubt? Zwickte dich nicht die Gicht in allen Gliedern? Brauste dirs nicht in den Ohren?“
„Das war der Wind, und das Wetter war oft unbeständig“, antwortete Hans.
„Nagte nicht der Zahnschmerz in deinen Backen?“
„Ich habe schon als Kind schlechte Zähne gehabt“, sagte Hans,
„das ist Veranlagung, meine Mutter hatte mit Dreißig ein Gebiss!“
„Und ward dirs nicht dunkel vor den Augen?“
„Ja, nachts, es gab hier manche Mondfinsternis“.
Hans setzte sich auf seinen Lieblingsstein vor der Hütte, der noch warm war vom Tage. Seine Beine zitterten, aber das kam ganz sicherlich nur von der Kühle, die vom
Boden her hochzog. So war es jeden Tag gewesen, wenn der Abend kam. Warum sollte es jetzt anders sein. Nun bitte schön sollte alles so bleiben wie immer.
Der Tod fasste Hans am Arm, seine Knochenfinger waren lang und schlossen sich fest um ihn. Oder war der Arm vom Hans so dünn geworden?
„Über das alles, hat nicht mein leiblicher Bruder, der Schlaf, dich jeden Abend an mich erinnert? Lagst du nicht in der Nacht, als wärest du schon
gestorben?“
Da wusste Hans nichts mehr zu erwidern, ergab sich in sein Geschick und ging mit dem Tode fort.
© Elke Therre-Staal
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