Winterfenster

 

Ich liebe den Winter. Ich kann stundenlang dasitzen und auf Schnee bedeckte Berge und Landschaften schauen. Oder die bunten Vögel vor meinem Fenster beobachten, die wohlwissend, dass es Futter gibt, angeflogen kommen und wie aus Dankbarkeit verweilen. Oder Kindern dabei zuschauen, wie sie an einem kleinen Hügel Schlitten fahren.  Der Gedanke hinausgehen zu müssen, widerstrebt mir. Ich liebe das Bild vom Winter vor meinem Fenster; Kälte, glatter Schnee oder gar Schneematsch sind mir jedoch ein Greul. Vielleicht liegt es daran, dass ich einmal als kleines Kind im Winter draußen vergessen wurde.
Zusammen mit meinen Geschwistern war ich hinaus gelaufen, um den Schneemann auf dem kleinen Spielplatz zu bewundern. Es war der erste Schneemann, den ich überhaupt gesehen hatte und bis heute ist er in meiner Erinnerung immer noch der schönste und größte Schneemann überhaupt. Er trug einen Hut und hatte eine Möhre als Nase. Kohlen dienten als Mund und als Knöpfe. Er hatte es warm. Wir hatten jedoch nicht einmal unsere Jacken über gezogen, denn wir wollten ja nur kurz schauen und dann zum Essen zurück sein.
Ich bewunderte den Schneemann wohl etwas zu lange. Denn als ich mich umschaute, war ich auf einmal allein. Ich machte mich auch auf den Heimweg. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Die Haustür war geschlossen. Ich drückte die Klingel, an die ich erst seit kurzem heranreichte, immer und immer wieder. Niemand hörte mich. Ich ging in den Garten und schaute durch das große  Wohnzimmerfenster, das ich nur erreichen konnte, weil ich mich auf die Treppenstufe stellte, Alle saßen vergnügt am Tisch und aßen Pellkartoffeln und selbst gemachten Heringssalat mit Äpfeln – mein Lieblingsgericht. 
Ich klopfte und klopfte. Niemand hörte mich und schon gar keiner vermisste mich. Das war ja auch kein Wunder, dass meine 8 Geschwister und meine Eltern mich nicht hören konnten, denn beim Essen wurde immer viel geschwatzt und geschmatzt.
Ich rief und klopfte. Meine Hände und meine Nase brannten vor Kälte. Meine Ohren spürte ich schon gar nicht mehr und auch nicht die Tränen, die mir über die Wangen liefen. Ich hatte nur einen Strickpullover, eine Hose und Stiefel an.
Erst nach einer halben Ewigkeit fiel der Familie auf, dass ich fehlte, und zwar nur deshalb, weil noch so viele Kartoffeln übrig waren. Denn ich schaffte stets mindestens 8 Stück. An dem Tag schmeckten sie mir besonders gut, und ich war froh, den Schnee jetzt von drinnen betrachten zu können.

(c) Doris Husslein