Emma Peel
Meine Kindheit und Jugend in den 60er/70er Jahren fand weitgehend ohne Fernsehen statt. Zu meiner Grundschulzeit ging man nach dem Mittagessen Hausaufgaben machen
und anschließend nach draußen, um zu sehen, wer noch so da war und was man mit dem angebrochenen Nachmittag anfangen konnte. Wir krochen dann durch Gebüsche, zwischen denen wir uns eingerichtet
hatten und alles Mögliche lagerten: Schätze, Steine, Erdklumpen, Stöcke oder Grasbüschel, womit wir dann feindliche Lager abwehrten oder auch angriffen. Auch trieben wir uns verbotenerweise auf
Baustellen herum, von denen es im Münchner Norden zu diesem Zeitpunkt viele gab. Dort bedienten wir uns aus angebrochenen Zementsäcken und lagerten alles zwischen den Büschen, man konnte
schließlich nie wissen, wann man solch einen Schatz zum eigenen Vorteil verwerten konnte. Oder wir durchsuchten den in einer Bauphase wasserlosen Kanal nach Brauchbarem wie alten Fahrrädern oder
Pfandflaschen. Kurz, die Welt war auch ohne amerikanische Serien erstaunlich aufregend.
Meine Mutter war noch sehr jung, sehr hübsch und allein erziehend. In diesen Zeiten war das keineswegs selbstverständlich und wurde von vielen misstrauisch beäugt und vor allem abwertend
behandelt. Da sie noch studierte, war unser Leben stramm auf ihren Stundenplan hin durchorganisiert und ohne unnötigen Ballast. Was Ballast war, definierte meine Mutter und legte damit den
Grundstein für meine ausgedehnte Lageristentätigkeit in den Gebüschen rund ums Haus. Ihre hausfraulichen Qualitäten ließen auch aus heutiger Sicht eher zu wünschen übrig, lieber kümmerte sie sich
um die wesentlichen und für Studierende relevanten Dinge. Die häuslichen Arbeiten empfand sie mehr als lästig und stürzte sich begeistert auf die Neuerungen, die die Zeit so mitbrachte und die
Entlastung der Hausfrau versprachen. Es gab dabei allerdings zwei wichtige Voraussetzungen: Die Dinge mussten preisgünstig und – das war das Zauberwort – „praktisch“ sein.
Und so kam es eines Tages zu uns: das Trägerkleid aus Kunstleder. Für mich. Wo sie es her hatte, weiß ich nicht. Es war von sehr dunklem Blau und roch schlecht. Sie war begeistert, denn es war
reißfest und mit einem Lappen abwischbar, wie praktisch! Leider war es auch etwas zu eng und gab kein bisschen nach. Ich musste mich mit erhobenen Armen hinstellen, während meine Mutter das Ding
über mich zwängte, so dass ich Atemnot bekam und es schließlich wie eine zweite Haut an mir saß. Sie war entzückt, weil sie das auch noch hübsch fand. Ich hingegen war in meinen Bewegungen
eingeschränkt, ich stank und dieses Ding machte bei jedem noch so kleinen Zucken ein raschelndes Geräusch. Ich wurde getröstet, dass ich damit nach draußen gehen und alles machen könne, da es
nicht kaputt gehe und ich mir auch keine Sorgen mehr um Flecken machen müsse. Beides hatte mir noch nie Sorgen bereitet. Stattdessen fragte ich mich voller Unruhe, wer mich noch in sein Lager
aufnehmen würde, wenn ich wie eine raschelnde Geruchsbelästigung daherkam. Leises Anschleichen konnte man völlig vergessen und mit der eingeschränkten Bewegungsfreiheit war ich auch keine
nützliche Unterstützung unserer Verteidigung mehr. Ich fürchtete mich vor dem Spott.
Meiner praktisch denkenden, fortschrittsgläubigen Mutter machte all das natürlich nichts aus. Sie freute sich über die eingesparten Wasch- und Flickzeiten und damit sich das alles auch richtig
lohnte, bestand sie darauf, mich am anderen Morgen in diese Hülle zu zwängen. Ich unterlag in der Auseinandersetzung und schlich mich auf Umwegen zur Schule, um nicht gesehen zu werden. Für mich
stand fest, dass dieser Tag meinen sicheren Untergang mit sich bringen würde, an Demütigung nicht mehr zu überbieten.
Als ich kurz vor acht schnell durch die Tür zum Klassenzimmer schlüpfen wollte, stand da Bernhard Konrad im Rahmen und wartete auf mich. Mit Bernhard Konrad verband mich eine intensive Liaison,
die sich in derben Beschimpfungen und Prügeleien äußerte, was verdeutlichte, wie sehr wir uns mochten. An anderen Tagen wäre ich glücklich gewesen, zu sehen, dass er auf mich wartete, aber heute
war er der Letzte, der Allerletzte, dem ich in diesem Aufzug vor dem Unterricht begegnen wollte. Ich war innerlich in vollem Aufruhr, als er zu mir sagte: „Hallo! Hey – du siehst aus wie Emma
Peel im Kampfanzug!“ Ich hatte keine Ahnung wovon er sprach, dieser Vergleich sagte mir überhaupt nichts. Aber aufgrund unserer sonst üblichen Art des Umgangs war mir unmittelbar klar, dass mich
schon lang niemand derart beleidigt hatte, dass er die üble Situation mit dem engen, stinkenden, raschelnden Kleid schnell erfasst und zu seinem Vorteil genutzt hatte, noch bevor ich über eine
passende Erklärung hätte nachdenken können. Dass er mich in meinem Unglück auch noch der Lächerlichkeit preisgab und dass ich kein Wort zurückgeben konnte, weil er vermutlich in allem, was er
sagte, auch noch Recht hatte und mein Aufzug ein einziges Desaster war und er im Handumdrehen die gesamte Klasse voll feixender und hämischer Kinder hinter sich haben würde… Das ließ nur eine
einzige mir passend erscheinende Antwort zu: einen Faustschlag, in dem sich meine ganze Wut, Scham und Verzweiflung entlud. Ich sehe heute noch sein erstauntes und gekränktes Gesicht, als er
zurücktaumelte. Und ich erinnere mich an das Gefühl der Befriedigung, zu wissen und zu zeigen, dass ich zwar aussah wie die letzte Vogelscheuche und auch so roch, aber meine Körperkräfte immer
noch zu respektieren waren!
Alle weiteren Auseinandersetzungen um das Tragen des praktischen Kleides verlor meine Mutter. Wohin es verschwand, habe ich nicht mitbekommen, vermutlich verschenkt an eine andere Familie mit
einer zu bemitleidenden Tochter. Mit Bernhard Konrad konnte ich nach einer Zeit der Distanz die gewohnten Beziehungsstrukturen wieder aufnehmen. Es herrschte die stillschweigende Übereinkunft,
über meinen Auftritt nie mehr zu sprechen.
Wer Emma Peel war, habe ich erst erfahren, als ich schon studierte und erstmals mit einem Fernseher und Fernseherfahrenen die Wohnung teilte.
Bernhard, es tut mir leid!
© Catherine Kemeny
Erschienen in Anthologie - "Dr. Walter und Emma Peel" - ISBN 9 783738 629750
Schreibwerkstatt Marburg e.V.
Schenkendorfweg 12
35039 Marburg
Fon 015238021538